Es hat nur wenige Stunden gedauert, da wird uns das neue Narrativ über die unermeßlich Größe der Kanzlerin Angela Merkel um die Ohren gehauen: Sie hat sich entschuldigt! Wie großartig! Rainald Becker, Chefredakteur der ARD findet, wenn unsere Kinder sich so verhielten, wären wir dankbar. Von Fehlerkultur ist viel die Rede beim ZDF-Chefredakteur Peter Frey. Selbst Christian Lindner von der FDP warnt davor, jetzt tatsächlich eine neue Regierung zu fordern. Die Kanzlerin hat sich entschuldigt! Das Wort des Tages lautet: „Fehlerkultur“.
Die leibhaftige Fehlerkultur
Bei Maischberger sitzt dann ein armer Mann. Er ist ungeschlacht, man darf sich nicht darüber lustig machen. Sein Gesicht ist eine Maske, die keine Gefühlsregung zulässt. Vermutlich würde er ein Glas Wasser, das man ihm ins Gesicht kippt, stoisch ertragen und lange nicht merken, wenn jemand auf ihn einprügelt. Er redet mit monotoner Stimme, leise und in einem gebrochenen Ton. Er ist nicht böse, man hat ihn gern in seiner Hilflosigkeit. Es ist Kanzleramtschef Helge Braun, er ist die wandelnde Fehlerkultur der Regierung Merkel. Er hat nach ihr das zweitwichtigste Amt: ihr Manager. Über seinen Schreibtisch läuft alles. Alles.
Er hat glänzend polierte Schuhe, einen perfekten Anzug. Das ist ein Fortschritt, denn sein Vorgänger, den wir seit einigen Wochen nur noch in der Mediathek sehen, Peter Altmaier, ist äußerlich wie Helge Braun, als der sein Amt übernahm. Mit einem Unterschied: Der Anzug zerknittert, das Hemd heraushängend, die Socken zu kurz, die Schuhe eine Beleidigung für das ehrbare Handwerk der Schuster. Es gibt also Fortschritt, doch. Aber sonst? Solche Männer hat Merkel um sich, mit ihnen glaubt sie, das Land regieren zu können.
Besagter Helge Braun wird von Sandra Maischberger am Nasenring durch das Studio geführt. Ganz sanft beginnt sie, er demontiert sich selbst. Er ist das Osterlamm, das sich nicht wehrt. Die zentrale Frage: Was ist da geschehen in dieser Nacht der 16-stündigen Coronaverhandlungen? Was sich offenbart, ist ein Schrecknis der besonderen Art.
Der Wunsch ist die Mutter der Politik
Helge Braun sagt, es habe in der Ministerpräsidentenkonferenz den wachsenden Wunsch gegeben, etwas zu vereinbaren, „was kürzer und prägnanter wirkt“. Es sollte hinten was raus kommen, um es in den Worten von Helmut Kohl zu sagen. In kleiner Runde hätten „die Führer dieser Konferenz“ – Merkel, Scholz, Söder, Müller – nach einem Signal gesucht, um den Ernst der Lage deutlich zu machen. Maischberger fragt, ob man dabei die rechtliche Durchführbarkeit nicht geprüft habe? Denn deswegen wird die Merkel`sche Osterruhe wieder zurückgerufen.
Was Politik leisten muss
Man ist entsetzt. Machen wir uns klar: In der Politik geht es am Ende um Leben und Tod, um die Zukunft der Völker, zuallererst um die des eigenen. Es sind schwere Entscheidungen zu treffen, mit brutalen Nebenwirkungen. Möglicherweise millionenfach tödlichen. Wie werden diese Entscheidungen vorbereitet? Dafür gibt es einige Zehntausend Beamte. Eine Hierarchie der Entscheidungsfindung. Ein richtiger Chef des Bundeskanzleramts, nicht so ein Clown wie Helge Braun, organisiert dies. Es wird auf der Fachebene geprüft, verhandelt, formuliert und im Hintergrund erneut geprüft. Übereinstimmung erzielt. Abgestimmt, die Apparate der Bundesländer sind spiegelbildlich, das Innenministerium prüft die Sicherheitslage, der Kommandostab der Bundeswehr steht bereit, die Lage-Beamten des Auswärtigen Amtes ebenso. Es ist an alles zu denken. Wo es keine Entscheidung gibt, wird auf die nächste Ebene abgegeben. Zu den Abteilungsleitern, zu den Staatssekretären, zu den Chefs. Bei denen dürfen nur noch wenige strittige Punkte landen, die allerschwierigsten. Die, bei denen die Hand der Beamten zittert, wenn sie diese Punkte formulieren. Die Chefs entscheiden das Letzte. Und jeder hat seine Mannschaft, die jedes Komma prüft. Sofort und auf Abruf. Jederzeit. Es gilt keine Arbeitszeitregel. Gar keine. Die Alarmzeiten sind auf Minuten ausgelegt.
Und nun also Merkels Runde mit den Ministerpräsidenten. Sie entscheiden einfach so. Ohne Ahnung, ohne Konzept, ohne Rat, und damit: ohne Verstand. 16 Stunden Gelaber. 16 Stunden Getue, ohne Lagebild, ohne Entscheidungsalternativen, ohne Folgenabwägung: „Es besteht der Wunsch“. Wünsche sind für den Wind. Die Lage zählt. Und die Fakten. Nicht Wünschbarkeit.
Es ist nur eine kleine Krise. Was wäre bei einer großen?
Nun erscheint uns die Corona-Krise als gewaltige Krise. Sie ist aber nur ein Pandemiechen. Man kann nämlich morgen auch noch über die üblichen wirkungslosen Maßnahmen entscheiden.
Stellen wir uns eine wirkliche Krise vor: Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu, hunderte Menschen an Bord. Eine Airbus kreist über Berlin oder Frankfurt, Terroristen im Cockpit. Putin hat einen kalt kalkulierten Wutanfall wegen Nordstream und schickt zehntausend Panzer, die sind schon an der Weichsel. Ein Erdbeben im Reaktorgebiet. Hamburg wird überflutet, Bremen ist schon ersoffen.
Heute hat Deutschland einen Helge Braun, der stammelt und mit anderen Wichtigtuern Regieren spielt. Und sich hinter „Fehlerkultur“ verbirgt, auch Schuld am Desaster haben will, auch für Fehlerkultur plädieren dürfen möchte.
Wir haben in Deutschland keine Fehlerkultur, sondern einen schweren politischen Kulturfehler.
In den Ämtern sitzen die Verkehrten. Komplett.
Die Schuhe von Helge Braun sind poliert. Das ist Fortschritt, den Sie meint.