Bitte entschuldigen Sie, aber ich frage mich das die ganze Zeit: Jemand wie Ralf Stegner, der es nach dem NRW-Desaster so knüppeldick serviert bekommt, der gerade seinen inneren Dämonen ins Anlitz schauen muss, der es doch immer nur gut meinte mit der Welt und Deutschland im Besonderen – wenn so einer nun aktuell zu den großen Verlierern gehört, wenn einer, der als ultimativer Griesgram zum Sinnbild wurde für das Gesicht hinter der steinernen Maske der zurückgeschrumpften SPD, wie geht man als Ralf Stegner heute in eine Talkshow? Schaut man in den Spiegel in der Garderobe? Versucht man sogar ein Lächeln als Alternative für Deutschland vor den Bildschirmen? Wie sieht das aus? Niemand hat es je gesehen. Der Bär tanzt nur, wenn er am Nasenring gezogen wird. War NRW der Nasenring für Ralf Stegner?
Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Wen der Herr liebt, den züchtigt er. So gesehen liebt Stegner sein Volk. Seine Deutschen, auch diese dummen AfD-affinen Deutschen. Dem Bösen in der Mitte der Gesellschaft das böse Gesicht zeigen als Auftrag. Zuchtmeister Stegner wollte den Deutschen so gerne ihr politischer Luther des 21. Jahrhunderts sein. Der Teufelsaustreiber, der Mahner, der strenge Reformer, der Eiferer. Aber was für ein Häufchen Elend blieb da nach dem nordrhein-westfälischen Ascheregen? Nun bleibt viel freie Zeit für Stegner, Zeit für mehr Gerechtigkeit für die anderen. Für die gerechte Strafe, für die totale Inkarnation des Postfaktischen?
„Mimimi….Taschentuch gefällig?“ Spott und Häme begleiten Stegner auf seinem schleppenden Gang von dieser stillen Büßerbank unter seiner Bordesholmer Gerichtslinde hin in dieses Publikums- und AfD-befreite Hamburger Studio Atelier A5. Sandra Maischberger soll es nun richten. Oder richten?
Thema des Abends: „Klartext, bitte! Was wollen Merkel und Schulz für Deutschland?“ Es geht um den Kampf ums Kanzleramt. Um den verzweifelten Versuch, eine große Koalition für den Moment auseinanderzudividieren, um sie nachher wieder wie durch ein Wunder zusammenzufügen, als wäre nichts gewesen. Der ganze Demokratie-Spuk vorbei. Selten noch ist eine Forderung nach mehr Gerechtigkeit ausgerechnet von denen plakatiert worden, die sich als Baumeister einer Ungerechtigkeitsgesellschaft offenbaren. Oder besser: als Werte-Abrissbirnen. Die Volksparteien haben sich vom Volk, haben sich vom Land verabschiedet in die innere Migration unter der Glaskuppel.
„Was wollen Merkel und Schulz für Deutschland?“ Was so klingt, als gäbe es zwei Antworten, kennt in Wahrheit nur eine. Die Gäste neben dem Herrn mit den Taschentüchern sind Peter Tauber, Generalsekretär der CDU, Katja Suding, stellvertretende Parteivorsitzende der FDP, Sahra Wagenknecht, Partei Die Linke und Robin Alexander, Bestsellerautor und WamS-Journalist, dem eine unangenehme Aufgabe zu Teil wird: Er hat die Kanzlerin oft begleitet und soll nun den Menschen von hinter der Raute erzählen. Hinter einer Raute, die hier nun bei Maischberger die Fatima gegen den bösen Blick des Herrn Stegner sein soll. Und so erklärt sich dann auch der Beliebtheitsfaktor einer Sahra Wagenknecht: In diesem Umfeld kann man einfach nicht verlieren, wenn man nachweislich noch nicht wirklich dazugehört. Deshalb ist die AfD draußen, sie ist zu oft als Sieger aus dem Studio gekommen. Und die AfD hat nicht einmal diese unsterbliche böse DDR im Nacken, wie Sahra, sondern nur Björn Höcke in seinem Kyffhäuser. Aber Höcke ist noch schlimmer als die DDR. Sonst säße einer von rechts hier, rechts von Maischberger.
„Was wollen Merkel und Schulz für Deutschland?“ Nichts Gutes, könnte man antworten und es dabei belassen. Das wäre doch mal was, nun einfach abzubrechen. Aber schauen wir trotzdem mal rein.
„Ich habe von Anfang an vor dem Schulz-Hype gewarnt“, sagte Martin Schulz, sagt Maischberger. Sahra Wagenknecht kommt ausnahmsweise in grün. Die Grünen müssen ja draußen bleiben, ebenso, wie die AfD.
Stegner darf beginnen: „Ja, es war ein Tiefschlag im sozialdemokratischen Kernland NRW.“ Die CDU hätte den Innenminister Ralf Jäger übel kritisiert, dafür werde man nun auf Bundesebene die Minister von der Leyen und de Maizière noch härter anfassen. Eine Kampfansage? Nein, sondern gleich zu Beginn der Sendung ein Offenbarungseid. Auf der Straße würde man offen sagen: eine echte Volksverarsche. Denn man kann es ja auch andersherum betrachten: Wäre Herr Jäger in Frieden gelassen worden, würde man die genannten Bundesminister in Ruhe lassen. Es geht also offensichtlich um schmutzige Deals unter den Volksparteien hinter verschlossenen Türen und nicht um Kritik an der Politik des vermeintlichen politischen Gegners. Vorübergehend vakante Kumpanei nennt man so etwas.
Robin Alexander denkt strategisch. Er kennt seine Rolle. Er schaut auf diesen ganzen Mummenschanz wie einer, der wohl genau weiß, dass er von den Krumen gut lebt. Katja Suding meldet sich zu Wort, sie möchte gefühlt eine Situation, wo beide Kanzlerkandidaten eine Chance haben. Ja, wenn es ein Tatort wäre, dann möchte man den Mörder erst zum Schluss erfahren, obwohl man längst weiß, es ist immer der Gärtner. Aber zur Bundesstagswahl?
Sahra Wagenknecht sah Schulz auf dem Vor-Schröderkurs. Aber dann hat er nicht geliefert. Es kam nichts, schlimmer als nichts. Er hat die Hoffnungen enttäuscht und bei vielen für Ernüchterung gesorgt. Was man jetzt hört, sei zu dünn. Die FDP-Debatte hat ihn gekillt, glaubt die Linke von der Partei Die Linke. Und man merkt: Auch Sahra Wagenknecht weiß, ohne einen starken Schulz schwinden die letzten Chancen auch für sie selbst, endlich mal Platz zu nehmen irgendwo auf der Regierungsbank.
Robin Alexander sieht Frieden in der CDU-Ecke. Jedenfalls keinen Streit mehr der nach außen dringt. Laschets Sieg in NRW verdanke dieser Herrn Bosbach, der immer eine andere Stimme zur Zuwanderung gehabt hätte. Das wäre der Sieg für Laschet gewesen. „Die Union hat Verantwortung für dieses Land“, sagt Tauber.
Die Flüchtlingskrise sei noch nicht abgearbeitet, „die Nächste mag kommen.“ Und bei der BAF nur Katastrophen, wie sich jetzt herausstellen würde, sagt ausgerechnet Ralf Stegner in Richtung CDU. Das ist nun die neue Rolle der SPD? Es der Laschet-CDU gleichtun und den Part der nicht eingeladenen AfD übernehmen. Man will es nicht glauben. Diese Personen im politischen Amt müssen den Bürger wirklich für ganz und gar ahnungslos halten, wenn nicht dämlich. Oder man vertraut nach wie vor darauf, dass man nur genügend Angst machen muss, dann wird es schon wieder zum Mehrheiten-Stockholm-Syndrom mit den Volksparteien kommen.
Robin Alexander sagt, den Leuten geht es nicht schlecht, aber daraus resultiert eben eine Verunsicherung. Er will wohl sagen, wer was hat, hat was zu verlieren. Es geht also um Ängste. Nicht geschürt von „Rechts“, sondern als notwendig für den Machterhalt ersehnt und befeuert von den Volksparteien. Dieses Denkmodell ist übrigens nicht Made in Germany. Die kanadische Politaktivisten Naomi Klein beschrieb es im gleichnamigen Weltbestseller als „Schock-Strategie“, Schocks zur Durchsetzung politisch sonst nicht mehrheitsfähiger Positionen. Man könnte auch sagen: Angst will keine Experimente. Also schürt man die Angst. Angst vor „rechts“. Raunende Angst vor der realen Angst der anderen vor einer nicht zu bewältigenden Einwanderungswelle usw.
„Herr Stegner lächelt milde“, schmunzelt Sandra Maischberger – und man denkt an die Heute Show, denn da wäre dieser Satz plus eingefrorenem Stegner-Standbild schon ein fertiger Gag. Und Stegner redet und redet, als wäre nichts mit ihm gewesen. Aber er redet dann doch wie einer, der dazu gezwungen würde, der sich ärgert, dass es diese Wahlen und den ganzen demokratischen Ballast überhaupt noch gibt als Hürde für das politische Amt.
Wirklich noch weiter zu hören? Man darf nicht allen alles versprechen, sagt Stegner. Habt ihr doch auch gemacht, sagt Robin Alexander. Darf ich Ihnen trotzdem widersprechen? fragt Stegner. Warum, wenn’s doch nicht stimmt, fragt Alexander, denn dann sei es doch Fakenews. Wahrscheinlich die beste Szene des Abends, aber sie dauert nur wenige Sekunden. Reden Sie doch keinen Unsinn, poltert Stegner. Macht er immer, wenn er kein Argument hat. Dann fährt ihm Tauber in die Parade. Stegner macht mimimi, aber nirgends ein Taschentuch. Er schielt kurz zu Alexanders Krawatte, aber es sieht nicht aus, als wolle er sich schneuzen, mehr so, als wolle er sie zuziehen, bis der WamS-Autor nur noch röchelt. Ein Machtmensch mit Gewaltfantasien?
Man streitet drinnen, aber es interessiert eigentlich niemanden mehr da draußen. Kita, Wirtschaftswachstum, mies bezahlte Bildung, Armutszeugnisse, referiert die Rote in grün. „Aufbau der digitalen Infrastruktur!“, schaltet sich die Dame von der FDP ergänzend ein. Ach herrje, man wünscht sich einen nächtlichen Sommerregen oder gleich ein veritables Gewitter, das alles hinwegspült.
Aber was dann? Demokratie heißt hier eben leider längst nicht mehr, die Wahl zu haben, sondern nur einen traurigen Blick auf mangelnde Alternativen zu behalten. Dieses ganze Merkel-Schulz-Theater soll das übertünchen. Die monate- und jahrelange Verunglimpfung der frischeren politischen Konkurrenten ebenso, wie die Selbstzerstörung der AfD auf dem schmalen Weg zum politischen Amt. Das alles kennen die Grünen und die Linken auch, aber sie haben es über die Jahre irgendwie doch an den umkämpften Futternapf geschafft.
2015 bleibt eine humanitäre Großtat, die sich aber niemals wiederholen darf, das wäre die Ansage der Kanzlerin auf dem letzten Parteitag gewesen, erinnert Robin Alexander. Das ist tatsächlich selbsterklärend. Nein, sie hat einen völligen Kontrollverlust des Staates zur Folge gehabt, weiß Sahra Wagenknecht. „Sie haben mit der Angst der Leute gespielt“, weiß Tauber. Aus dem Munde des Generalsekretärs der Kanzlerpartei klingt das wie Hohn, aber keine angstfreien Zuschauer da, die jetzt wütend mit Tomaten werfen könnten. Überhaupt keine da.
23:43 Uhr, noch 17 lange Minuten, wie soll man das durchstehen als Zuschauer vor den Fernseher? Klar, man könnte ausschalten, man könnte aber auch aus Facebook und Twitter austreten, Gründe gibt es genug, es tut gar nicht weh. Aber wenn man den Allerwertesten nicht hoch bekommt vom Sofa, dann doch bitte auch im September einfach sitzen bleiben. Oder wenn aufstehen, dann wenigstens die Pläne der Stegner und Tauber durchkreuzen.
Außerparlamentarischer Protest? Um einmal die Angst umzuleiten dorthin und zu solchen Politikern, die mit den Fingern ausgerechnet auf jene zeigen, die sie doch vertreten sollen. Leuten wie Stegner und Tauber muss man ihrer unerträgliche Selbstgefälligkeit nehmen und ihnen die Angst einfach zurückgeben. Tatsächlich muss sich der Bürger von seinem eigenen Staat emanzipieren. Und von solchen Sendungen natürlich sowieso. Ach so, Stegner sagt dann noch, er lebt gerne in diesem Land. Und dabei rutschen seine Mundwinkel wieder runter, bis zum Hosenbund. Unser Problem sei doch nicht die Vielfalt, sondern die Einfalt, ruft er ganz einfältig in den Abspann hinein.