Lanz stellt Steinbrück als einen Mann vor, „der auf fast schon unheimliche Weise bis heute Einfluss hat auf die deutsche Politik“. Wie recht er doch hat. Denn Steinbrück zieht in der folgenden Stunde so richtig vom Leder.
Dabei beginnt alles so harmlos. Der plötzliche Anruf des Kanzlers bei Putin habe ihn zwar sehr überrascht, bekennt Steinbrück, doch dies als simples Wahlkampf-Manöver abtun, das will er nicht. Auch der überraschende Besuch des Kanzlers in Kiew sei nicht zu kritisieren: „Dann müsste der Bundeskanzler morgens im Bett bleiben und dürfte gar nichts mehr tun, um sich diese Kritik nicht an den Hals zu ziehen.“ Doch schon Steinbrücks nächster Satz verwässert das Gesagte: „Wahlkampf ist kein Ponyhof. Da wird auch ausgeteilt.“ Aha, also doch. Und Lanz setzt noch einen drauf: „Metaphorisch gesprochen, ist er vorher zwei Jahre lang im Bett geblieben.“
Schon beim Thema Taurus bringt Steinbrück das Gerüst, das sich Scholz gerade mühsam bastelt, gehörig ins Wanken. Hintergrund: Indem er das Langstreckenwaffensystem nicht für die Ukraine freigibt, stellt sich Scholz stets als besonnener Weltenlenker dar, der die Deutschen davor bewahrt, von Russland als aktiver Kriegsteilnehmer wahrgenommen zu werden. Es ist sein vielleicht wichtigstes Pfund im aktuellen Bundestagswahlkampf. Denn CDU-Kontrahent Friedrich Merz will Taurus-Raketen samt deutschem Bedienungspersonal liefern und sagte sogar: „Ich habe keine Angst vor einem Atomkrieg.“
Auch Steinbrück hat offenbar keine Angst vor einem russischen Nuklaer-Konter. Er kritisiert Scholz und Merz gleichermaßen: „Ich halte das Spiel mit Angst für völlig falsch. Weil man sonst der Bedrohung unterliegt. Das tut auch das Bündnis Sahra Wagenknecht, das tut auch die AfD. Dem ergebe ich mich nicht dadurch, dass ich auf der Klaviatur von Angst spiele, sondern indem ich versuche zu motivieren. Wir müssen dem widerstehen.“ Klingt eher nach einer Verteidigungsrede für Friedrich Merz. Scholz dürfte sich gerade bildlich die Haare raufen.
Die Haltung des Kanzlers findet Steinbrück „schwammig. Es wäre nicht meine Haltung.“ Auch die beiden anderen Gäste lassen an Scholz kein gutes Haar. Journalistin Sonja Álvarez (Wirtschaftswoche) findet es tragisch, „wie er vom Friedens- zum Angstmacherkanzler wird“. Deutschland sei dadurch „sehr berechenbar für einen Putin, und das ist ein großer Fehler“. Manager Martin Richenhagen (langjähriger CEO des US-Landmaschinenherstellers AGCO) tritt nach: „Ich habe nicht den Eindruck, dass Scholz Angst verbreiten will, aber er ist nicht jemand, der Zuversicht verbreitet.“ Dass er überhaupt nochmal als Kanzlerkandidat antritt, findet Richenhagen völlig absurd. „Fehlt dem eigentlich jegliche Selbsterkenntnis? Warum klammert er sich so an diesen Job? Er müsste doch gemerkt haben, dass er’s nicht kann.“ Und Steinbrück legt noch eine vergiftete Kirsche auf die Torte: „Das setzt eine Art von Selbstreflexion voraus, die Sie gar nicht unterstellen können.“ Lacher in der Runde. Spätestens jetzt steht Scholz allein da.
Aus Steinbrücks distinguierten Giftdosen sprechen viele Jahrzehnte politischer Grundimmunisierung. So verteidigt er sogar die erneute Kanzlerkandidatur. Denn die Aufstellung eines Boris Pistorius, des beliebtesten aller unbeliebten Politiker derzeit, sei keine Alternative gewesen: „Weil Sie es dann mit einem amtierenden Bundeskanzler zu tun haben, den Sie überreden müssen, dass er den Biden macht. Und dann haben Sie es mit einem SPD-Kanzlerkandidaten zu tun, dem sie beibringen müssen, dass er Mr. Harris ist. Und die sollen dann Wahlkampf betreiben.“
Weiter geht’s. Jetzt holen alle ihre Giftspritzen raus. Richenhagen spricht den Kanzlerberatern jegliche Kompetenz ab, ihm „kritisch den Spiegel vorzuhalten“. Er stichelt: „Frau Esken, ich will die nicht beschimpfen, aber die nimmt ja keiner ernst. Und wahrscheinlich Herr Scholz auch nicht.“ Steinbrück erhöht auch hier die Dosis: „Es ist immer die Frage, welche Sparringspartner man zulässt.“
Auch Álvarez hat noch einen: „Der Parteiführung ist es komplett entglitten. Man hätte ja gleich am 6. November, am Tag nach dem Ampel-Aus, sich hinstellen und ihn nominieren müssen.“ Wieder Steinbrück: „Sie hätten einen Beratervertrag haben müssen, Frau Álvarez, weil das zutreffend ist. Man hätte das am 6. November abends machen müssen.“ Doch Álvarez hat offenbar Besseres zu tun, als einer sterbenden Partei die Schläuche zu halten, wenn schon einer der Totengräber direkt neben ihr sitzt: „Ich weiß nicht, ob das so eine angenehme Position ist, denn der Kanzler ist ja dafür bekannt, dass er eher beraterresistent ist.“ Steinbrück macht den Deckel zu: „Die Partei hat ihre Chance nicht genutzt nach dieser Wirtshausschlägerei. Emotional kann ich es verstehen. Politisch geht es nicht.“ Obacht, denkt der ängstliche Zuschauer. Hat Scholz in seiner Aktentasche neben dem Taschenmesser nicht auch einen Atomknopf? Ach nein, er ist ja nur der deutsche Kanzler.
Lanz rechnet unterdessen vor, dass seit Mai bereits 80.000 Jobs verloren gegangen seien. „Das heißt, Deutschland verliert gerade real Wohlstand?“, will er von Steinbrück wissen. Doch Steinbrück schweigt. Und schweigt. Und schweigt. Nanu, was ist da los? „Er kann’s nicht beantworten“, frohlockt Richenhagen. „Doch, kann er“, sagt Lanz. Richenhagen: „Er will nicht!“ Da fängt Steinbrück sich plötzlich wieder, doch der Textbaukasten klemmt: „Es geht um Wohlstandssicherung. Wir verlieren Wohlstand, wenn wir jetzt nicht bereit sind, das Notwendige zu tun.“ Dem Zuschauer sei es selbst überlassen, was von dieser Antwort zu halten ist.
Am Ende hat Richenhagen die Antwort auf alle Fragen. Sie lautet nicht 42, sondern: „Da ist niemand mit Wirtschaftskompetenz, am wenigsten der Wirtschaftsminister.“ Habeck, check!
So war an diesem Abend genügend Gift für alle da.