Tichys Einblick
Kühnert will verteilen statt produzieren

Bei Illner: Unsoziale Inflation oder unsoziale Ampelregierung?

Deutschland befindet sich auf dem absteigenden Ast und setzt die Säge an den Stamm. Vom Wirtschaftswunderkind zum schwarzen Schaf der EU-Familie. Bei Illner diskutieren Politiker und Journalisten, warum es der Wirtschaft schlecht geht – die Fachleute sitzen entsetzt daneben. Von Noemi Johler

Screenprint ZDF

„Wie dramatisch ist die Lage?“, fragt Maybrit Illner. Ihre Gäste – so ausgewogen wie immer: Zwei Politiker von SPD und CDU, eine Journalistin, ein Wirtschaftshistoriker und ein Makroökonom, sitzen Däumchen drehend in der Runde. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert verdreht durchgehend die Augen, CDU-Wirtschaftsexperte Carsten Linnemann zieht frustriert die Augenbrauen zusammen und das Mauerblümchen Julia Friedrichs pocht in Dauerschleife auf soziale Gerechtigkeit. Der Makroökonom Daniel Stelter und der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze liebäugeln mit den Theorien des anderen.

Den Ernst der Lage bringt auch nicht der Ehrengast Claudia Jeschkowski auf den Punkt. Eingeladen wurde die Mutter zweier Kinder, die sich nun überlegt, anstatt zwei nur eine Woche in den Urlaub zu fahren und kurzsichtig die Altersvorsorge um 150 Euro pro Monat einschränkt. Sie repräsentiert die Mittelschicht: Ihr Haushalt hat mit ihrem Mann ein Einkommen, so Illner, von im Monat 4.500 bis 5.000 Euro – netto; selber arbeitet die Betroffene 25 Stunden pro Woche. Deswegen muss Illner nochmal erwähnen, dass auch eine hypothetische Lehrerin sparen muss, „die tatsächlich in einer staatlichen Institution arbeitet“ und laut Friedrichs Integrationskurse für neue Arbeitskräfte unterrichtet.

Doch die Lage ist ernst. Hier geht es nicht darum, dass jemand eine Woche Urlaub macht statt zwei Wochen, oder seine Altersvorsorge um 150 Euro im Monat einschränkt. Seit 2019 hat das Einkommen eines Durchschnittverdieners 5.000 Euro an Wert verloren. Fünf Wochen Lohn weniger, bei gleicher Arbeitszeit. Und die meisten Deutschen verdienen weniger als diesen statistischen Durchschnitt.

Immer noch zittert Deutschland unter der Inflation von 6,1 Prozent. Lebensmittel und Energie so teuer wie noch nie – so zumindest das Gefühl der Bevölkerung. Nur kurze Freude konnte die Lohnerhöhung 2022 entfachen, denn der Reallohn sinkt. Die Inflation frisst seit 2019 alle Lohnerhöhungen auf und beißt noch ein Stück vom Einkommen ab. Rechnet man Energie und Nahrungsmittel raus, bekommt man eine Kerninflation von über 5 Prozent – das ist die eigentlich alarmierende Zahl. Denn diese sagt aus, dass die Inflation noch nicht am Ende ist und von einem Wohlstandsverlust begleitet wird. Auch die rettende Zinswende der EZB stellte sich hier als Büchse der Pandora heraus.

Industrie-Subvention statt Infrastruktur-Investition

Deutschland befindet sich in einer technischen Rezession, hatte also zwei Quartale hintereinander ein negatives Wachstum. Hinter der bejubelten Rekordbeschäftigung wandern Fachkräfte aus oder verlieren gut bezahlte Stellen in der Industrie. Ersetzt werden sie durch Mindestlohn-Arbeitnehmer – das Phänomen der ertragsarmen Aushilfen lässt die Produktivität sinken. Gleichzeitig wandern ganze Industriezweige wegen der Energieinstabilität und Unterversorgung am Standort Deutschland ab. Nicht minder schnell steigen die Zahlen der beantragten Unternehmensinsolvenzen.

Platz bekommt dafür die stark subventionierte und mit günstigem Strompreis versorgte US-Firma Intel. Die Subvention beträgt 10 Milliarden Euro, „das sind vom Baby bis zum Rentner 120 Euro, dieses Geld sollte nicht dafür ausgegeben werden“, so Stelter. Er appelliert, das Geld stattdessen in die Basis für eine wachsende Produktivität zu investieren, da „wir uns nicht in den Wohlstand subventionieren können“ und „wir uns die Inflation auch nicht wegsubventionieren“ können. Auch Tooze teilt diese Auffassung und sieht kein Wirtschaftswachstum in der „Verlierer-Firma“ Intel. Illner bekommt darauf nur ein „oh oh“ heraus.

Während Stelter und Tooze in der Talkshow harmlos fachsimpeln, bricht zwischen Linnemann und Kühnert der Hahnenkampf aus. Auf die Frage von Illner „Was hilft Bürgern in der Not?“ regnet es Vorwürfe. Linnemann unterstellt der Bundesregierung, „keinen wirtschaftlichen Sachverstand“ zu besitzen, und wirft Kühnert vor: „die Milliarden, die sie rausballern, das stimuliert wieder die Inflation und nächstes Jahr sitzen wir wieder hier“. Heldenhaft schwingt Linnemann die Steuerreform-Keule und setzt sich für die Mittelschicht ein. Diese Situation lässt Kühnert nicht aus und erinnert CDU-Mitglied Linnemann, wer die letzten Jahre in der Regierung saß. Nachdem Kühnert Linnemann empfiehlt, „sich diese Krokodilstränen zu sparen“, schaltet sich Stelter ein.

„Frau Illner, ich glaube wir erleben gerade die Ursachen des Problems“ – Stelter stellt klar, was Kühnert eigentlich wissen müsste. Deutschland hat so viele Beschäftigte wie noch nie, aber diese bieten nicht die Qualität von Fachkräften. Die Produktivität in Deutschland sinkt und das ändert auch der Mindestlohn nicht, egal wie hoch ihn Kühnert anheben möchte. Kühnert reagiert trotzig, aber Stelter weiß auch hierauf eine Antwort: „Wenn ich Sie aufrege, dann liegt das daran, dass Sie sich nicht mit den Grundsätzen der Wirtschaft beschäftigen wollen.“ – Ein wunder Punkt für den Vertreter einer Partei, deren Wirtschaftspolitik auf dem Prinzip „Teilhabe am Wohlstand“ fußte.

Wie soll denn weniger Wohlstand besser verteilt werden? Stellter ist ein erfrischender Gast in der Runde. Nicht nur verständliche Kommunikation, die auch die Politiker der Runde beherrschen, sondern auch wirtschafltichen Sachverstand bringt er mit. Denn die wirtschaftlichen Probleme des Landes haben schon vor Corona und der jetzigen Krise, die auch auf weltweiten Ereignissen beruht, begonnen.

Das Wachstum der Vor-Corona-Jahre war ein Trugschluss, denn die Bevölkerung Deutschlands konnte ihre Produktivität – und damit den Wert ihrer Arbeit – nicht steigern. Stattdessen ist einfach die Zahl der Arbeitnehmer gewachsen; Deutschland hat zurzeit eine Rekordbeschäftigung. Doch es ist ein Rekord von Lieferanten und Paketboten: Menschen, die hart arbeiten, aber wenig verdienen. Also mussten die Löhne niedrig bleiben. „Es ist einfach, einen Kuchen, der wächst, zu verteilen“, so Stelter und meint den Wohlstand des Landes. „Aber wenn er schrumpft oder stagniert, dann nehmen die Verteilungskämpfe zu.“

Und im Hintergund fletscht Kühnert im Verteilungskampf bereits die Zähne, ohne sich Gedanken machen zu wollen, wie der Kuchen wieder wachsen kann. Er verteilt lieber eingenommene Steuergelder. Der CDU-Mann Linnemann fordert eine Agenda 2030 und bietet der Regierung eine „konstruktive Zusammenarbeit“ im Bundesrat an. Die CDU, ewig staatstragend, sieht sich immer noch in der Regierung.

Nach 60 Minuten „Qualitätsfernsehen“ erinnert man sich an viele Fehler der Politik, kennt ein Dutzend neuer Probleme, weiß, dass die Bundesregierung wenige Lösungen auf dem Tisch liegen hat und faktisch über kein kompetentes Personal verfügt. Kein Wunder, dass Julia Friedrichs sich wieder wünscht, „ein Bild von einem Land zu malen, das eine gute Zukunft hat“. Dabei hat diese Talkshow nur ein Bild gezeigt: In Deutschland geht’s schlimmer immer.

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