Die Redakteure von Illner haben wohl beschlossen, mal etwas ganz Kontroverses ins Programm zu bringen, als sie das Motto der gestrigen Sendung festlegten: „Feste ohne Freude – wie lang wird der Corona-Winter?“. Man diskutiert nicht, ob die Maßnahmen zu hart, sondern ob sie nicht zu schwach sind, da man der Bevölkerung ja um Weihnachten eine Verschnaufpause gewährt hat – betreutes Diskutieren in der Endstufe.
Also wie ist das mit Weihnachten – ist es fahrlässig, ist es nötig? Bei Illner haben sich Kindergärtner und eine artige Kindergartengruppe versammelt, um sich darüber auszutauschen, wie man das Volk am besten bemuttert bzw. wie man am besten bemuttert wird – mit einer Überraschung, mit der wahrscheinlich auch Illner nicht gerechnet hat.
Der erste Gast des Abends war Helge Braun. Der Chef des Bundeskanzleramtes ist Arzt, was man allerdings nicht merken würde, wenn man es nicht wüsste. Er schaut immer sehr verängstigt, wirkt verstört und dem „harten“ Kreuzverhör des ÖRR nicht ganz gewachsen – aber gut, 22:15 Uhr ist wahrscheinlich schon lange nach seiner üblichen Schlafenszeit, da war das Sandmännchen ja schon da. Er scheint allgemein keinen wirklichen Plan zu haben, vielmehr besteht sein Auftritt daraus, sich und die Regierung aus allem rauszureden, aber das ist ja wohl auch sein Job.
Ebenfalls eine Kindergärtnerin, aber der anderen Art, war die Psychologische Psychotherapeutin Ulrike Lüken. Mit einer weichen Stimme erklärt sie, dass die Ausnahme zu Weihnachten gut war, um den Menschen eine Belohnung zu geben. Mit bildlichen Metaphern wie „Das ist keine Mittelstreckendistanz, das ist ein Marathon. Aber auch ein Marathon hat ein Ende“, versucht sie das Ganze zu veranschaulichen, für die kleinen Bürger, die das alles sonst noch nicht ganz verstehen können. Mit pädagogischen Ansätzen wie: „Gut, dann Weihnachten halt im Mai (…) warum nicht?“, nimmt sie die Kinder an die Hand und erklärt ihnen, dass der Weihnachtsmann einen Schnupfen hat und sich verspätet, denn für die Erwachsenenunterhaltung sind sie noch zu klein.
Ranga Yogeshwar war auch da; in der Rolle des Erzieherlieblings versuchte der Wissenschaftsjournalist scheinbar alle glücklich zu machen, indem er allen zustimmt, als sei es ein dringendes Herzensanliegen von ihm. Spannend wurde es mit ihm nur kurz, als er in einem Anflug frühkindlicher Rebellion vorschlug, dass Beamte – insbesondere Politiker – deren Job ja gesichert ist, doch auf ihr 13. Monatsgehalt verzichten könnten, um es denen zu geben, die nicht arbeiten dürfen. Es war lustig, wie die anwesenden Politiker sich aus dem Vorschlag wieder rauszureden versuchten. Helge Braun druckste umher, dass die Steuerfinanzierung der Hilfen, die „fairste“ Variante sei und dass alles andere gar nicht nötig wäre – es läuft ja schließlich alles super.
Und das, obwohl Michael Mittermeier nur wenige Minuten vorher beklagt hatte, dass er viele kenne, die noch nicht einmal die Hilfen für den Sommer bekommen haben. Der Komiker Mittermeier sollte an diesem Abend die Kulturbranche vertreten, die ja jetzt arbeitslos ist – aber das zog nicht so ganz, denn ausgerechnet er war zu Anfang noch verhindert und konnte erst zur letzten Hälfte dazustoßen. Als er dann da war, spielte die Technik wohl nicht ganz mit, so dass alles zeitversetzt war. Die Folge: es sprachen erst alle gleichzeitig, dann stoppten alle, dann setzten alle gleichzeitig wieder ein – bis Illner sichtlich genervt keine Lust mehr hatte. Auch wenn er nicht den Eindruck machte, hatte Mittermeier die Sendezeit aber wohl nötig und forderte in einer „Ich bin nicht mehr so ganz jung aber brauche das Geld“-Manier: „Gebt mir die Handynummer von Olaf Scholz!“; denn er wolle den Politiker gerne beraten.
Die Rasselbande emanzipiert sich
Zu guter letzt die Dame, die uns eine kleine Überraschung bescherte: Sibylle Katzenstein. Sie ist Allgemeinmedizinerin und leitet eine Covid-19-Schwerpunktpraxis in Berlin. Sie wurde wohl als Spezialistin dazugezogen (sozusagen die Oberlehrerin), damit sie alles sagt, was man hören will, nur schlauer, die Deutschen lieben schließlich Experten. Allerdings spielte sie in dieser Rolle nicht so ganz mit. Und so konnte man live und in Farbe mit ansehen, wie die Autorität einer Expertin dahinbröckelt – und vom Kindergarten übernommen wurde.
Im Kindergarten ist man sich eigentlich einig: Weihnachten ist ein Geschenk der Erzieher an die Kindergartenkinder, und dafür müssen alle ganz brav und artig sein und die Kontakte runterfahren, sonst kommt der Weihnachtsmann nicht. Man sprach nicht von mündigen Bürgern, denen in einer Gefahrensituation im demokratischen Rahmen die Grundrechte eingeschränkt werden. Vielmehr wurde über ihren Kopf hinweg entschieden. Der Lockdown und die Maßnahmen sind aus Gründen, die ihren Horizont überschreiten, wichtig – die Frage ist nun, wie man das den Kindern beibringt, ohne dass sie bockig werden und randalieren. Dabei möchte man sich natürlich an die Bedürfnisse der Kinder anpassen, aber „natürlich endet die Freiheit des Einzelnen, wo es um die Gemeinschaft geht“, wie Helge Braun sagte.
Eigentlich ist Katzenstein auch gar nicht so wirklich Kritikerin, auch nicht so sehr den Maßnahmen – der Unterschied zwischen ihr und den anderen liegt viel mehr darin, dass sie der Bevölkerung mehr zutraut. Sie ist über den Kindergarten hinaus. Statt die Kinder zu Weihnachten einzusperren, weil sie zu naiv sind, die Griffel von einander zu lassen, möchte sie aufklären. Aufklären darüber, wie man sich selbst schützt und sogar darüber, wie man sich selbst testet. Und auch was angemessen ist. Die meisten haben nur ein Problem mit denen, die sich nicht genug schützen, die, die sich zu viel schützen, werden außer Acht gelassen. Dazu sagt Katzenstein, dass sie zwar berufsbedingt „mit ihrer Maske verheiratet ist“, draußen aber „nie“ eine trägt.
Mit diesen Vorstellungen konfrontiert sie Helge Braun, fragt ihn immer wieder, warum man es nicht auch anders machen könnte, stützte sich dabei auf ihre Erfahrungen aus der Praxis. Warum muss man gleich die Kontakte beschränken, warum kann man den Menschen nicht beibringen, wie man sich richtig schützt? In ihrer Praxis sind 1.300 positiv getestete Patienten ein- und ausgegangen, und es hat sich keiner ihrer Kollegen angesteckt. „Man muss sich nicht anstecken“, sagt sie. Doch das überfordert wohl alle. Plötzlich wird sie nicht mehr nach den Einschätzungen einer Expertin gefragt, sondern ihre Äußerungen werden als „interessante Plädoyers“ abgestempelt.
Als Katzenstein fragt, warum die Tests von Ärzten durchgeführt werden müssen – er besteht nur aus drei einfachen Schritten – erklärt Braun der Corona-Ärztin, dass man die Patienten nicht mit einer „Diagnose alleine lassen“ kann. Die wiederum wirft ein, dass es ja klar ist, dass ein Patient, der sich positiv testet und dann Angst hat, sich an einen Arzt wendet. Da ist das Argument von Braun plötzlich die „rechtlichen“ Richtlinien, „darüber kann man sich nicht einfach hinweg setzten“. Diesen Satz sagt Helge Braun – ein Politiker, Politiker legen rechtliche Richtlinien fest – so selbstverständlich, als hätte er nicht vor, sich bis März über das Grundgesetz hinwegzusetzen. Eine Spezialistin kommt in einem Kindergarten nicht weiter – da behalten die Kinderpädagogen das letzte Wort. Da geht es nur darum, wie viel man der Bevölkerung zutraut – oder eigentlich: zutrauen will. Nicht viel jedenfalls.