Man stelle sich mal für einen Augenblick vor, der Talk „Anne Will“ würde sich nicht in einem Studio der ARD abspulen, sondern in einem nüchternen Konferenzzimmer eines Büro-Hochhauses aus Glas, Stahl und Beton. Um die Gastgeberin herum säßen drei CEOs großer Unternehmen mit ihren jeweiligen Rechtsberatern. Alle sechs würden auf die Tischplatte starren, denn soeben sind die Bilanzzahlen des zu begutachtenden Unternehmens dort gelandet. Die bange Frage, die am Ende den Preis für das Objekt bestimmen wird, lautet: Wie ist der Zustand? Ehrlicherweise würde nach kurzer Zeit Anne Will mit ernst verkniffener Miene – auch schon beim letzten Mal war das so – verkünden: Die Unternehmensspitze hat total versagt, sieht aber keinen Grund für Änderungen der Strategie. Kurzum – der Patient steht unmittelbar vor der Insolvenz.
Eine der ersten Fragen ging an die gerade aus New York gekommene Journalistin Samiha Shafy: „Warum gerade die USA im Zurückdrängen der Corona-Wellen so erfolgreich sind? Das habe man ja nicht erwarten können.“ Die Antwort kam prompt und war eindeutig: „Es gibt nur einen Schlüssel zum Erfolg: Impfen, impfen, impfen.“ Die Runde erklärte das Einleuchtende: Dass man nur impfen könne, wenn man über Impfstoff verfüge, und der sei nun mal nicht vorhanden, also sei es eben so, wie es ist. Schon droht das nächste Desaster, auch die versprochenen Schnelltests sind nicht überall im Lande verfügbar.
Eine Haupthürde für alles in Deutschland, so die übereinstimmende Meinung, stelle die Bürokratie dar, mit ihren formalisierten und langwierigen Prozessen. Plötzlich veränderte sich der Tenor in der Debatte. Irgendwie, so schien es förmlich aus dem Fernseher herauszuschreien, muss es ja weitergehen, aber wie? Vor allem aber, wer ist für das bisherige Totalversagen verantwortlich?
Die aus dem Bundeskanzleramt durchgesickerte Absicht, flächendeckend nächtliche Ausgangssperren zu verhängen, nannte der Vizepräsident des Bundestages schlicht verfassungswidrig. Unabhängig davon, dass Entscheidungen über derartige Maßnahmen in der jeweiligen Region getroffen werden müssen, würden die Menschen in Deutschland das nicht mitmachen. Neue Ansätze müssten her, sonst könnte es auch für unsere Demokratie problematisch werden, besonders dann, wenn das Vertrauen in den Staatnoch weiter zurückgeht, mahnte Kubicki eindringlich. Hier hätte Will fragen müssen, was er damit konkret meine, und befürchte! Schade, aber nicht anders erwartbar, sie tat es nicht.
Und schon waren sie wieder da, die Unsicherheit und das Nichtabstimmen der Entscheidungen. Süffisant merkte Schwesig an, wenn Ausgangssperren erforderlich werden, liege die Entscheidung beim Bund. „Nein, nein – Irrtum“, rief Kubicki, „das ist falsch.“ Der interne Zoff zwischen Regierung und Ländern dürfte also weitergehen.
Ein weiteres brachte die Sendung zutage – so sei es höchste Zeit, dass die Kriterien zur Bewertung der Krise geändert werden. Sind Inzidenzwerte wirklich der einzige Maßstab, muss nicht vor allem die konkrete Situation in den Krankenhäusern berücksichtigt und die Lage in sogenannten Hotspots ständig beobachtet werden? Dazu muss man auch nicht ganze Bevölkerungsteile in den Lockdown zwingen. New York zeige täglich, so die New Yorkerin, dass es auch anders gehe. Mit Obrigkeitsstaatlichkeit kann man in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2021 nicht regieren, auch die Kanzlerin wird das noch begreifen müssen.
Es war gut, dass Will sich mit fortschreitender Zeit zurücknahm. Denn auch für sie muss klar sein, wenn die Themen ernster und härter werden, und davon ist auszugehen, reichen eine Rundum-Wohlfühl-Attitude beim gemeinsamen Zeitgeist-Surfen nicht mehr aus. Dann muss auch die Präsentation perfekt sein – mit Sachlichkeit, fair und vor allem kompetent – ob Will das kann?