Es gab gestern Abend bei „Anne Will“ zwei Momente, die in die Chronik der Geschichte der Bundesrepublik Einzug finden werden. Der eine war die Feststellung des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, dass die Politik sich endlich mit den wirklich großen Fragen der Zukunft unseres Landes beschäftigen müsse. Deutlicher kann man die Einsicht auch des eigenen Versagens nicht aussprechen. Dann war es der Vorsitzende der Telekom-Stiftung und einfaches Bundestagsmitglied, Ex-Minister und langjähriger Chef des Bundeskanzleramts, Thomas de Maizière (CDU), der in einem Nebensatz die Erkenntnis formulierte, dass der Glaube an die Gewissheit einer fortgesetzten CDU-Kanzlerschaft nicht mehr berechtigt sei. Das war dann wohl auch der Grund, dass er als Prügelknabe, der nichts mehr zu verlieren hat, am Abend der Wahlausgänge in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz von Merkel in den Ring geschickt wurde. Schade, dass Frau Will die Bedeutung dieser beiden Momente in ihrer Sendung nicht begriff und gleich im Anschluss zum technischen Problem der zukünftigen Compliance-Regeln für Abgeordnete überging.
Dabei, und das weiß Frau Will genau, gehört de Maizière zu den redlichsten und menschlich anständigsten Politikern in der Umgebung der Kanzlerin. Immerhin hatte er die Würde, als Merkel ihm die Bitte, im Amt des Verteidigungsministers zu verbleiben, abschlug, von selbst seinen Hut zu nehmen, ohne ein einziges Mal zurückzukarten. Natürlich erkannte der erfahrene Stratege, dass in diesem Moment der Bundestagswahlkampf eröffnet wurde, in dem die Unionsparteien von der versammelten Linken mit dem Makel der „systemischen Korruption“ diffamiert werden sollen. De Maizière konterte mit dem überfälligen Hinweis, dass ein SPD-Bundeskanzler namens Schröder kurz nach seinem Ausscheiden aus der Politik an die Spitze eines russischen Energiekonzerns gerückt sei. Warum hakte Frau Will an dieser Stelle nicht nach? Wohl deshalb, weil damit die schon vorher besprochene Strategie des Gesprächsverlaufs nicht aufgegangen wäre. Nach journalistischen Maßstäben verdient das Verhalten von Anne Will nur eine Note – ungenügend.
Olaf Scholz witterte in dieser Lage unverkennbar Morgenluft. Er sehe einhergehend mit dem Niedergang der Christdemokraten nicht nur die Chance für eine Ampelkoalition im Bund, sondern sogar für ein rot-grün-rotes Bündnis als Möglichkeit. Es bestehe die Gefahr, dass die Bundesrepublik ihren im internationalen Vergleich hohen Wohlstand nicht mehr halten könne. Auch müsse jede Klimapolitik die Funktionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft garantieren. Und das seien nur zwei der großen Herausforderungen. Makaber und unfreiwillig komisch wirkte da am Ende der kleine Disput, ob Habecks Partnerin an der Spitze der Grünen, Annalena Baerbock, aufgrund ihres Geschlechtes nicht automatisch Anspruch auf die Kanzlerkandidatur der Grünen habe. Als ob das Geschlecht für die Bewältigung der Zukunfts-Aufgaben wichtig wäre. Und noch eines: Alle waren sich einig, dass die Siege von Malu Dreyer (SPD) und Winfried Kretschmann (Grüne) in Mainz und Stuttgart nur auf deren Persönlichkeit zurückzuführen seien. Mit dem Status der Parteien in Land und Bund habe das nichts zu tun.