Anne Will lieferte bei diesem Kanzlerinterview zwar nicht wie zuletzt bei Angela Merkel gleich zu Beginn eine devote Ergebenheitsadresse ab. Damals hatte sie dem erstaunten Publikum mitgeteilt, dass ihre Fragen aus dem Verständnis für die Meinung Merkels resultierten. Aber sie ließ auch gestern Abend nicht den leisesten Zweifel aufkommen, für welchen Politiker ihr Herz schlägt. Hintereinander bescheinigte sie Olaf Scholz ein hohes Maß an Fleiß, Sorgfältigkeit, Kenntnisreichtum und durch all das die Fähigkeit zu klugen Entscheidungen. Ihre anschließende Frage, ob sich ihr Gast in seiner neuen Rolle als Kanzler als führungsstark begreife, brauchte dieser dann nur noch mit einem klaren Ja zu beantworten.
Oberstes Ziel bleibe aber, die kriegerischen Handlungen möglichst schnell zu beenden und in Verhandlungen einzutreten. Überraschend selbstbewusst bezeichnete er Deutschland gemeinsam mit den USA als die entscheidende europäische Macht des Westens. Die Bezeichnung Putins als Kriegsverbrecher, wie Joe Biden das getan hat, machte sich Scholz allerdings nicht zu eigen.
Alle Vorwürfe, Deutschland verzögere versprochene Waffenlieferungen an die Ukraine, wies der Kanzler zurück. „Man kann nicht über alles öffentlich sprechen. Im Sinne der Beteiligten ist Verschwiegenheit absolut notwendig.“ So sehr Will auch nachbohrte, ihr Gast ließ alle Fragen an sich abgleiten. Auch ein weiterer Versuch der Moderatorin, Scholz aufs Glatteis zu locken, misslang. Will unterstellte, Präsident Biden habe einen Regimewechsel in Moskau zum Ziel erklärt. Scholz wies dies mit großer Schärfe zurück und verwies auf das von Biden in Warschau Gesagte, dass Putin durch sein Handeln die Fähigkeit für ein Regierungsamt verloren habe. An Olaf Scholz fiel dabei auf, dass er auf Fallen wie diese in einem Tonfall antwortet, der weiteres Nachfragen verbietet. Offensichtlich versucht er auch auf diese Weise, Führungskraft zu demonstrieren.
Forderungen nach einem sofortigen Stopp der Energieimporte aus Russland lehnte der Regierungschef ab. Die Folgen für die deutsche Wirtschaft seien nicht zu verantworten. Gleichzeitig bekräftigte er die Absicht, die diesbezügliche Abhängigkeit von Russland rasch zu beenden. Dazu behauptete Scholz, dass er selbst schon seit Längerem und bereits vor der Ukraine-Krise, darüber nachgedacht habe. Man habe Pläne, die schon lange in der Schublade gelegen hätten, „jetzt aktiv geschaltet“. Mit größtem Tempo werde die technische Infrastruktur geschaffen, um Gas von anderen Lieferanten importieren zu können. Schade, dass Will an dieser Stelle nicht nachfasste. Denn Zweifel sind bei einem Mann, der noch bis unmittelbar vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine an der Energiepartnerschaft mit Russland festhielt und das Projekt „Nord Stream 2″ als rein wirtschaftliches ohne politische Bedeutung bezeichnete, durchaus angebracht. Scholz gibt vor, die Bundesregierung habe das Desaster kommen sehen und sei vorbereitet gewesen. Auch hier fehlt jede Nachfrage von Will. Denn die Fakten sprechen eine andere Sprache. Scholz beschönigt seine Blindheit.
Zum aufkommenden Konflikt mit der CDU zur Ergänzung des Grundgesetzes zwecks Einrichtung eines Sonderfonds zur Ertüchtigung der Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro, zu der eine Zweidrittelmehrheit und damit die Zustimmung der CDU/CSU im Bundestag notwendig ist, sagte Scholz, dass die Interessen der Nation in historischen Momenten über allem anderen stehen müssen. In dieser Frage, so der Kanzler, stimme er auch mit Oppositionsführer Friedrich Merz überein.
Man muss schon sehr lange zurückdenken, um eine solche Würdigung der Nation aus dem Mund eines sozialdemokratischen Spitzenpolitikers zitieren zu können. Vielleicht ist auch das ein Teil der „Zeitenwende“?