„Spitzelvorwürfe, Beschimpfungen, Drohungen – Gefährdet Erdogan unseren inneren Frieden?“ Das ist ja schon mal eine merkwürdige Fragestellung bei Anne Will. Denn wenn etwas unseren inneren Frieden akut gefährden könnte, dann doch ausgehend von Menschen in Deutschland und nicht von Erdogan aus Ankara. Diskutiert werden soll also der sogenannte „lange Arm“.
Leider begeistern sich nun aber viele Türken in Deutschland für Erdogan. Menschen, die hier zugleich die Vorzüge deutscher Kultur und deutschen Wohlstands genießen und nebenbei offensichtlich türkischstämmige Landsleute, die gegen Erdogan sind, bespitzeln, beschimpfen und bedrohen.
Türken und Türkischstämmige leben millionenfach mit und neben und unter uns. So, wie dieser sympathische Bauhandwerker, der gerade mit seinen Kollegen den örtlichen Supermarkt umbaut. Dunkles Haar, dunkler Teint, schwarze Augen. Könnte also einer sein. Also trauen wir uns einfach mal: „Hallo, wie geht’s? Sind Sie türkischstämmig? Wie ist das denn mit Erdogan? Ist der ein guter Mann?“ Es stellt sich heraus, der Angesprochene ist gebürtiger Deutscher mit kurdischer Abstammung.
Nein, mit dem „Diktator vom Bosporus“ hat er nichts am Hut, grinst, er. Seine Kanzlerin sei Frau Merkel. Klar, sein Herz schlage auch für das Volk seiner Eltern und Großeltern. Und das klingt auch ohne Doppelpass nicht wie ein Zwiespalt.
Ist dieser Bauhandwerker nun Deutscher zweiter Klasse? Nein, das will man nicht glauben wollen. Man mag nicht einmal fragen, wie es ihm dabei geht. Klar man hat ihn angesprochen, weil er einem bestimmten Phänotyp entsprach, ein Äußeres, das in Westdeutschland eben Teil der Identität vieler Menschen ist. Teil einer neuen deutschen Identität.
Bei Anne Will wird nun diskutiert, ob Erdogan diese sich entwickelte Selbstverständlichkeit untergraben, torpedieren und wieder vakant stellen möchte. Wenn es so nicht geht, geht es mit Drohungen, mit Beschimpfungen? Steht für Erdogan eine fünfte Kolonne unter den hier lebenden Türken Gewehr bei Fuß? Auch diese Frage diskutieren bei Anne Will Boris Pistorius (SPD), der Niedersächsische Innenminister, der Kabarettist und Autor Serdar Somuncu, Paul Ziemiak, Bundesvorsitzender der Jungen Union, die Rechtsanwältin mit türkisch-kurdischen Wurzeln, Seyran Ates und Rahmi Turan, er ist Korrespondent in Deutschland für den AKP-nahen türkischen Sender A HABER.
Aber lassen wir, bevor wir in die Sendung einsteigen, kurz noch Fatih Akin zu Wort kommen. Der Hamburger mit türkischen Wurzeln ist sicher einer der beliebtesten prominenten Künstler Deutschlands türkischer Abstammung. Fatih Akin vermutet unter den Pro-Erdogan-Demonstranten in Deutschland Deutsch-Türken der Mitte, die hier ihre Steuern zahlen, aber „irgendwie im Stolz verletzt wurden und hier nicht wirklich anerkannt sind“. Akin erzählt, dass diese Menschen in der Türkei auch nicht anerkannt und immer unbeliebt waren. Erdogan hätte es allerdings verstanden, sie richtig anzusprechen.
Hat er sie wirklich nur angesprochen? Also im Herzen erwischt? Anne Will mutmaßt ja „Spitzelvorwürfe, Beschimpfungen, Drohungen“ und möchte das diskutiert haben.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht zunächst die Spionageliste des türkischen Geheimdienstes MIT an den BND über angebliche Unterstützer der Gülen-Bewegung. BND-Chef Bruno Kahl hatte die Liste an das von Hans-Georg Maaßen geleitete Bundesamt für Verfassungsschutz weitergerreicht. Von dort aus ging die Liste an das Bundeskriminalamt und die Sicherheitsbehörden der Länder. Beamte des BKA warnten daraufhin die auf der Liste erwähnten Menschen persönlich. Unter ihnen übrigens auch die deutsche SPD-Abgeordnete Michelle Müntefering.
Kabarettist Serdar Somuncu möchte erst einmal relativieren: Spitzeleien seien zunächst mal üblich zwischen Staaten. Die USA würden es in Deutschland machen, Deutschland sogar in der Türkei, wenn es um IS-Kämpfer aus Deutschland ginge usw.
Rahmi Turan erklärt, dass selbst die Opposition in der Türkei davon überzeugt ist, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putsch steckt. Deshalb hätte der türkische Geheimdienst eine Liste mit Gülenisten an die deutschen Kollegen geschickt, die diese allerdings dann nutzten, um die Menschen auf der Liste über ihre Nennung dort zu informieren.
Paul Ziemiak, Bundesvorsitzender der Jungen Union startet mit einer Grußbotschaft an seine Parteivorsitzende. Er fand das Verhalten der Bundeskanzlerin insgesamt sehr diplomatisch. Dank ihr gäbe es nun beispielsweise keine Wahlkampfveranstaltungen türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland.
Seyran Ates wird bedroht, sie erhält Post, dass sie bloß nicht in die Türkei kommen soll. Sie sei eine Vaterlandsverräterin. Serdar Somuncu führt aus, das Erdogan die türkische Gesellschaft in Deutschland spalte. Er nehme den Konflikt zwischen seinen Anhängern und Gegnern unter den Türken und Türkischstämmigen in Deutschland billigend in Kauf.
Im Gespräch bleiben ja, EU-Aufnahmeverhandlungen nein, fasst der niedersächsische Innenminister noch mal zusammen, was schon tausend mal so erklärt wurde. Einspieler aus Berlin. Kann man in Kreuzberg gegen das Referendum sein? Gegner sprechen nur ohne Kamera. „Wer was sagt, dann geht man sofort Knast in Türkei.“, erklärt eine Türkin in gebrochenem Deutsch. Wie tief sind die Risse, fragt Anne Will. Seyran Ates erläutert, dass, wer gegen Erdogan ist, automatisch unter Verdacht steht, gegen die Türkei zu sein, Erdogan ist die Türkei. Aber Anfangs wurde er gefeiert in Europa, erinnert sie die Gesprächspartner und Zuschauer.
Somuncu ist tatsächlich der hellste Kopf in der Runde. Sein Vortrag spiegelt die ganze Ambivalenz eines Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Nachvollziehbar und selbsterklärend. Und wichtig. Denn er gibt hier im deutschen Fernsehen jener Minderheit unter den Türken und Türkischstämmigen in Deutschland eine Stimme, die sich in ihren Vierteln kaum noch trauen, öffentlich gegen Erdogan oder wenigstens gegen das Referendum zu sein.
Themensprung: Somuncu ist gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Man müsse sich entscheiden. Für den Innenminister ist es ein deutsch-türkisches Problem. Es wäre doch zwischen europäischen Staaten auch kein Problem. Auch nicht für Deutsch-Amerikaner. Somuncu hebt hervor, was Deutschland alles für die Türken getan hat. Wer dann trotzdem noch für Erdogan und die Todesstrafe sei, „das ist ein Affront gegen den Gastgeber“. Also gegen Deutschland.
Aus Rahmi Turan wird man nicht ganz schlau. Er arbeitet für einen Erdogan-nahen TV-Sender. Seine Bundeskanzlerin ist aber Merkel, sein Präsident Steinmeier, erklärt er. Sein Deutsch hingegen ist trotz Studium in München merkwürdig gebrochen, so dass Anne Will einmal eingestehen muss, das sie kein Wort verstanden hat.
Dann kommt auch noch Kaiser Wilhelm zu Wort, der mal im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz festschrieb, dass Deutsch sein eine Frage des Blutes sei. Das hätte noch Bestand gehabt bis tief in die Bundesrepublik hinein, in Teilen bis ins Jahr 2000. Erst Rot-Grün führte das so genannte „Recht des Bodens“ ein. Jetzt zählt der Geburtsort. Kinder deren ausländische Eltern seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben, erhalten auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Alter zwischen 18 und 23 Jahren müssen sie sich dann entscheiden. 2014 kam die Gesetzesänderung, die besagte, dass man beide Pässe behalten kann. Auf dem letzten Parteitag hat die Union nun wieder beschlossen, sich dafür einzusetzen, diese Reglung zu kippen. Ja, was denn nun?
Paul Ziemiak möchte zwischendrin kurz klar stellen, dass er eben kein eingebürgerter Pole sei, sondern Sohn von Spätaussiedlern. Das dürfe man nicht vermischen. Doch dieses kurze Missverständnis zwischen Moderation und Gast ist eben doch exemplarisch für die Feinheiten und eben dann auch Fallstricke in dieser Dauerdiskussion.
Ein Schlüsselsatz: „Obwohl ich nur noch den deutschen Pass habe, bleibe ich in Deutschland Ausländerin“, meint Seyran Ates. Das erinnert dann an das vom Autor hier anfangs geführte Gespräch mit dem Baufacharbeiter am Supermarktumbau. In Deutschland galt bis weit in die Bundesrepublik hinein die Staatsbürgerschaft nach Abstammung. Und noch heute erkennt der deutschstämmige Deutsche meistens den türkischstämmigen Deutschen unter anderen Deutschen und umgekehrt. Aber manchmal ist es beim näheren Kennenlernen dann eben doch ein Kurde oder vielleicht ein Israeli oder ein Norweger, der vielleicht irgendwann vor vielen Generationen Vorfahren hatte, die aus dem kleinasiatischen Raum eingewandert sind.
Was ist der wahre Grund für dieses Gefühl, nicht dazuzugehören? Es geht um persönliche Erfahrungen, die im positiven Fall zu Schubladen und im negativen zu Vorurteilen werden. Man darf befürchten, dass diese Krise rund um Erdogans Referendum, dass die Begeisterung für Erdogan mitten in Deutschland nicht dazu beiträgt, Ressentiments zu reduzieren hin zu einer als angenehm empfundenen Vielfalt.
„Ich kann doch ein Staatsangehörigkeitsprinzip nicht von einem Konflikt mit einem anderen Staat abhängig machen“, interveniert der Innenminister. Der erste Schritt für eine gute Integration sei, dass sich der Staat zu einer gewollten Einwanderung bekennt.
Das ist allerdings merkwürdig, was der Minister da sagt. Denn der erste Schritt sollte doch sein, dass der Eingewanderte überhaupt von Herzen Teil der Gesellschaft werden möchte. Dass er also einen Integrationswillen überhaupt erst mitbringt. Frau Ates sagt, man sei nicht integriert worden bisher. Damit hat sie das Problem unbewusst auf den Punkt getroffen, denn „integriert werden“ ist eine Sache. Die viel wichtigere ist allerdings, sich integrieren zu wollen. Wahrscheinlich ist dieses Missverständnis dann auch die größte Hürde.
Für Frau Ates ist die doppelte Staatsangehörigkeit ein ehrliches Abbild der Realität. Für Herrn Somuncu ist es eine Einladung zu einer gespaltenen Identität. Das war dann der interessanteste Moment dieses Talkabends. Die Erkenntnis nämlich, das beide recht haben. Und dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, wenn wir attestieren müssen, dass Deutsche, andere Deutsche als türkischstämmig erkennen, dass gegenseitige Ressentiments vorhanden sind, und dass es eben seine Zeit braucht, bis zusammenwächst, was nun mal zusammen – jedenfalls nebeneinander ist. Westdeutschland ist hier sogar 40 Jahre voraus. Auch dieses Gefälle ist Teil des Problems.