„Politik muss mit der Wahrnehmung der Realitäten beginnen“. Diese Weisheit gilt auch für politische Talk-Runden wie „Anne Will“. Manche Themen erlauben kein unverbindliches Geplauder auf den weichen Sesseln des „es könnte, es sollte, es müsste“ auf der Basis gemeinsamer ideologischer Haltungen im Sinne des Zeitgeistes.
Nachrichtenlage ist: Europa steht dreißig Jahre nach Ende des kalten Krieges wieder an der Schwelle eines Aggressionskrieges zwischen zwei europäischen Staaten – Russland und der Ukraine. Im Moment scheint es tatsächlich so, als ob das Testen der jeweiligen Nervenstärke ihren Höhepunkt erreicht.
Die Gäste von „Anne Will“: der SPD-Parteivorsitzende, Lars Klingbeil, das außenpolitische Schwergewicht der CDU, Norbert Röttgen, die Politikwissenschaftlerin des renommierten US-Thinktanks „Brookings Institution“, Constanze Stelzenmüller, die Spitzenpolitikerin der Linken, Sahra Wagenknecht – und last but not least die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, zugeschaltet aus Brüssel.
Schon vor Beginn der Sendung war klar, dass Wagenknecht als Außenseiterposition geladen war. Russland sei vom Westen, und ganz vorn natürlich die USA, in den vergangenen Jahrzehnten nur gedemütigt und in seinen Sicherheitsinteressen missachtet worden. Mit der Ausweitung der NATO habe man die jetzige Situation erst heraufbeschworen. Deutschland habe mehr gemeinsame Interessen mit Russland als den USA. Ein Rückzug der Amerikaner aus Europa sei wünschenswert. Zuvor hatte sie auf die amerikanische Stationierung von Raketen und Einrichtungen von Militärbasen in Osteuropa hingewiesen.
Wesentlich konzedierter trat der EU Nummer 2, Ursula von der Leyen, auf. Die Gefahr einer Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sah sie nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Dies sei, so von der Leyen, auch ohne Nord Stream 2 und Ukraine-Krise bereits jetzt der Fall. Europa müsse seine Versorgung dringend und schnell breiter aufstellen. Eine echte News hatte sie auch mitgebracht: Für den Fall, dass Russland seine Gaslieferungen kurzfristig einstelle, sei ein dichtes Netz geknüpft, um die Versorgung auch Deutschlands bis zum Ende des Winters ohne Unterbrechung sicherzustellen. Dies aber sei eine Notfall-Lösung. Sofort werde man in diesem Fall durch weitgehende Maßnahmen die gesamte Versorgungsstruktur umstellen. Dabei spiele natürlich auch Flüssiggas aus den USA eine wichtige Rolle. Aber auch das nicht auf Dauer. Das Ziel sei letztlich die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern und deren Ersatz durch grünen Wasserstoff und vor allem regenerative Energien.
So unfreiwillig zynisch das klingt, aber fast scheint es so, als ob erst die Gefahr eines Krieges den Westen zum energiepolitischen Aufwachen brachte und zu längst fälligen Korrekturen getrieben habe.