Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen: Doch nicht die Öffentlich-Rechtlichen waren es, die letzte Woche Ausschnitte der Sitzungsprotokolle des Corona-Krisenstabs vom Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlichten. Sondern das Online-Magazin „Multipolar“: Die Protokolle beweisen, dass die Bundesregierung Maßnahmen ergriff und Grundrechte einschränkte, obwohl die Berater des RKI davon abrieten.
In der Pandemie schauten ARD, Spiegel und Co der Regierung nicht kritisch auf die Finger, wie es eigentlich ihre Aufgabe als Vierte Gewalt gewesen wäre. Sondern sie übernahmen die Rolle des Verstärkers der Regierungsmeinung. Und selbst jetzt übernehmen sie nicht die Arbeit der Kollegen des Multipolar-Magazins, sondern schlagen sich im Gegenteil wieder auf die Seite der Regierung und skandalisieren die journalistischen Aufklärer. Es war Multipolar, das dafür sorgte, dass die Inhalte der Sitzungsprotokolle öffentlich wurden und Schlagzeilen machen. Die RKI-Protokolle sind „brisant“, wie beispielsweise ZDF und Bild titelten. Sie seien „politischer Sprengstoff“: Immerhin zeigen die Protokolle, dass das RKI am 17. März 2020 das Gesundheitsrisiko von „mäßig“ auf „hoch“ gestuft hat, nachdem es einen Tag zuvor hieß: „Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird öffentlich, sobald (Personenname geschwärzt) ein Signal dafür gibt.“ Wer diese Person ist, das wüssten viele gerne, bleibt aber spekulativ.
Am Sonntag hieß es beim Spiegel zu den veröffentlichten Corona-Protokollen noch: „Das Online-Magazin ‚Multipolar‘, das auf diesen Schritt geklagt hatte, veröffentlichte die Unterlagen.“ Keine 24 Stunden später änderte der Spiegel den Satz zu: „Das rechte Onlinemagazin ‚Multipolar‘ (…).“ Die ARD meint derweil, die RKI-Protokolle seien gar nicht so brisant. Die Tagesschau veröffentlicht einen Text vom „ARD-Faktenfinder“ Pascal Siggelkow, der titelt: „RKI-Files und der Skandal, der keiner ist“.
Es soll kein Skandal sein, dass eine unbekannte Person, über dessen Identität bislang nur gemutmaßt werden kann, bestimmt, wann das Gesundheitsrisiko hochskaliert wird? Siggelkow schreibt: „Das lässt sich aus den Protokollen so nicht entnehmen.“ Aha. Weiter heißt es bei der Tagesschau: „Das RKI hatte somit bereits eine neue Risikobewertung vorgenommen, die jedoch noch nicht veröffentlicht wurde. Die Behauptung, dass diese Entscheidung nicht auf fachlicher Einschätzung passiert sei, ist somit irreführend. Es fehlte lediglich die Zustimmung einer bestimmten Person, um diese Risikobewertung zu veröffentlichen.“ Aha.
Dann rechtfertigt der „ARD-Faktenfinder“ die Ergebnisse der – seiner Meinung nach nicht brisanten – Protokolle noch damit, dass andere Länder die Risikobewertung ebenfalls hochgestuft haben. „Da kann ein Land wie Deutschland nicht plötzlich sagen: Nein, wir finden das aber alles anders“, zitiert er Hajo Zeeb, Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen, ganz nach dem Motto: Wenn einer vom Hochhaus springt, springen wir auch. Und außerdem seien die Maßnahmen in anderen Ländern zu dem Zeitpunkt bereits „einschneidend“ gewesen: Ausgangssperren, Notstände, geschlossene Grenzen. Stimmt: Deutschland soll sich mal nicht so anstellen mit den Maßnahmen, die die Bundesregierung entgegen den Empfehlungen des RKI getroffen hat.
Eine weitere Maßnahme, die die Bundesregierung entgegen den Empfehlungen des RKI getroffen hat, waren die 3G- und 2G-Regeln, durch die Ungeimpfte aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen wurden: Keine Restaurants, keine Theater, keine Kinos, keine Friseure, teilweise nicht mal Arztpraxen durften sie besuchen. Sechs Monate vor diesen Regelungen, am 5. März 2021, hieß es von den RKI-Experten, dass es „fachlich nicht begründbar“ ist, dass für Geimpfte und Genesene eine Ausnahme von den Corona-Beschränkungen gemacht werden soll. Und das Impfzertifikat solle nicht als Grundlage für „Vorrechte“ gelten, weil das Ungeimpfte diskriminieren würde. Aber das war der Bundesregierung offensichtlich egal.
Die Tagesschau verdreht also die Tatsachen und stellt die Brisanz der Protokolle in Frage. Der Spiegel schiebt „Multipolar“ in die rechte Ecke, obwohl die Journalisten von „Multipolar“ im Gegensatz zu so manchen anderen ihren Job als Vierte Gewalt ernst genommen haben und über einen nicht ausgeschlossenen Machtmissbrauch der Bundesregierung berichten. Und andere Medien, wie das Handelsblatt, berichten kurz über die Veröffentlichung der Protokolle, betonen aber, dass Karl Lauterbach zurückweist, dass es eine „äußere Einflussnahme“ auf die Risikobewertungen des RKI gab: Gegenüber der Tagesschau sagte Lauterbach: „Das RKI hat unabhängig von politischer Weisung gearbeitet.“
Apropos Talkshows: Bei den vielen Fragen, die die RKI-Protokolle aufwerfen – Brisanz hin oder her –, könnte man erwarten, dass sie bei öffentlich-rechtlichen Polit-Talkmagazinen wie „Hart aber Fair“ zum Thema werden. Aber nein: Bei Louis Klamroth geht es am Montagabend um das Bürgergeld. Zu den Protokollen wird geschwiegen. Auch in den Morgen-Podcasts von Handelsblatt und FAZ werden die RKI-Protokolle – wenn überhaupt – nur nebensächlich erwähnt. Na ja, die Protokolle zeigen halt nur, wie die Regierung die Grundrechte eingeschränkt hat, obwohl Experten ihnen davon abgeraten haben. Sie zeigen nur, dass die Lockdowns „schwerere“ Folgen hatten als Corona selbst und eine „steigende Kindersterblichkeit zu erwarten“ war. Sie zeigen, dass bei einer normalen Grippewelle „mehr Leute versterben“. Und sie beweisen, dass der Krisenstab über das hohe Durchschnittsalter der Toten diskutiert hat: „Das Argument, das ältere, gebrechlichere Menschen, die auch ohne Covid-19 zeitnah versterben würden, sollte entschärft werden“, steht in einem Vermerk im Protokoll. Die Verschleierung der RKI-Protokolle hat begonnen.