Tichys Einblick
ARD-Börsenfrau schonungslos

Inflation bei „Hart aber Fair“: Die Büchse der Pandora ist längst geöffnet

„Hart aber Fair“ überrascht mit einem erstaunlich relevanten Talk zur Inflationsspirale, der vor allem durch Beispiele aus dem echten Leben besticht. Die Politik wirkt blass. Eine Börsenexpertin findet deutliche Worte: Vor uns liegt ein Jahrzehnt von Inflation und Stagnation.

Screenprint ARD / Hart aber Fair

Der Krieg in der Ukraine dominiert seit Monaten die Talkshows im deutschen Fernsehen. Eine selten gewordene Abwechslung liefert am Montagabend Frank Plasberg: Bei „Hart aber Fair“ geht es um Inflation – und auch sonst ist die Runde ungewohnt anders. Anstatt der immergleichen Thematiken mit weitgehend gesetzten Gästerotationen wird endlich ein Thema diskutiert, welches für den durchschnittlichen Gebührenzahler weitaus relevanter, akuter und bedeutender sein wird.

„Tank und Einkaufswagen voll – können sich das nur noch die Reichen leisten?“, fragt Plasberg seine Gäste. Dass die Inflation nicht erst seit Heute zum Problem wird, kommt jetzt auch bei den Öffentlich-Rechtlichen an – und wird an diesem Abend in erfrischender Klarheit herausgestellt. Denn eine ARD-Journalistin holt die Runde schnell auf den Boden der Tatsachen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Anja Kohl ist ARD-Börsenexpertin und die Realistin der Runde. Während Politiker wie Mittelstandsunions-Chefin Gitta Connemann (CDU) oder der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr vor allem mit bekannten Parolen, politischen Kunstsätzen und den ohnehin schon selbst geforderten Ideen auffallen, ist Kohl brutal klar: Die Inflation wird bleiben. Sie ist überzeugt: „Wir gehen in eine Dekade der Inflation.“ Inflation, die wir nur noch abfedern, aber nicht mehr beenden können. Die Schleusen sind endgültig geöffnet – und Holland in Not. „Es wird richtig, richtig schwierig“, prognostiziert die Journalistin.

Wie schwierig es tatsächlich schon ist, zeigen zwei weitere Gäste in der Runde. Jens Diezinger arbeitet als Erzieher in einem Kindergarten, ist selbst Vater von fünf Kindern. Die sind es auch, die gerade substanziell zum Familienbudget beitragen: Bei „Hart aber Fair“ wird vorgerechnet, wie signifikant allein schon der Anteil des Kindergeldes am Gesamteinkommen der Diezingers ist. Verdienen tun er und seine Frau insgesamt rund 4.000 Euro im Monat. Das ist nicht viel bei zwei Berufstätigen und fünf Kindern – und die Inflation macht sich deswegen umso bemerkbarer. „Wir geben jeden Monat 260 Euro mehr für Lebensmittel aus“, berichtet der Erzieher. 80 bis 90 Euro habe er vor Kurzem noch für einen Wocheneinkauf bezahlt. „Ich bin jetzt bei 140 Euro.“

Er vermute Preisabsprachen zwischen den Supermärkten und Discountern. „Einer setzt die Preise hoch und die anderen ziehen hinterher.“ Da stimmt ihm auch Börsenexpertin Kohl zu: Sie spricht sogar von einem „Oligopol“, dem man das Handwerk legen müsse. So schnell wie die Preise in den Geschäften steigen, würde sein Gehalt nicht steigen, beklagt sich Diezinger. Hinzu kämen die gestiegenen Sprit- und bald wohl auch Heizkosten. Die Folge: Die Familie Diezinger sieht beim Wocheneinkauf genau hin. Und: „Ich fahre weniger Auto, tanke am 1. des Monats.“

Steuer- und Abgabenlast
Die Inflation frisst die Mittelschicht auf – und die Politik schaut zu
FDP-Fraktionschef Christian Dürr ist in der sicherlich undankbaren Rolle, an diesem Abend „die Politik“ zu vertreten. Doch besonders gut macht er seine Sache nicht. Er bekundet viel guten Willen seinerseits und von Seiten seiner Partei, die Menschen zu entlasten – doch die anderen wollten nicht. Lange verfängt er sich in Ausführungen über das Kartellamt, welches Preisabsprachen bei Tankstellen oder Supermärkten verhindern solle. Anja Kohl grätscht dazwischen und nimmt den Ball dankend auf: „Die Wahrheit ist, dass das Kartellamt Monate gewartet hat“, wirft sie ein. „Es ist bis heute nichts passiert.“

Dürrs Ausführungen wirken streckenweise eher wie Ausflüchte. Auch CDU-Politikerin Gitta Connemann wirft lieber Nebelgranaten, anstatt Tacheles zu reden – auch sie bekommt den erwarteten Smackdown von Anja Kohl. Dass sie, gemeinsam mit Dürr, jetzt eine großangelegte Steuerreform fordert, bietet nach 16 Jahren unionsgeführter Untätigkeit immerhin auch genug Angriffsfläche.

Die beiden Politiker spulen das ab, was man von Mittelstandsunion und FDP erwartet: kleine und mittlere Einkommen, vor allem aber „den Mittelstand“ und gerne auch „die Unternehmen“ entlasten. Ampel-Dürr ist auch auf die Ampel-Wohltaten wie den Tankrabatt oder das Neun-Euro-Ticket mächtig stolz. Das Problem: Die Verpuffen in der aktuellen Lage direkt und weitgehend wirkungslos.

Das beschreibt Bäckermeister Jürgen Hinkelmann. Er beschäftigt im Raum Dortmund rund 600 Mitarbeiter – von denen er bald nicht mehr weiß, wie er sie noch bezahlen kann. Oft sichtlich emotional aufgrund der schwierigen Situation, die er beschreibt und erlebt, zerplatzen an Hinkelmann die Sprachblasen der Politik. Seine Mitarbeiter würden ihn teilweise um Gehaltserhöhungen bitten, nur um den Weg zur Arbeit noch lohnend finanzieren zu können – das muss er ablehnen. Alles werde teurer, er müsse immer mehr Geld ausgeben, um sein Geschäft am Laufen zu halten. Käse beispielsweise habe seinen Preis um 100 Prozent gesteigert, es gäbe eine massive Unterversorgung am Markt. Daran seien wiederum auch die steigenden Tierfutterpreise schuld. Hinkelmanns Ausführungen veranschaulichen, dass sich die Inflation erbarmungslos durch die Wirtschaftskette frisst – und auf ihrem Weg alle beschädigt.

Sendung am 12.05.2022
Tichys Ausblick Talk: Steuern und Inflation – die neue soziale Frage?
Dass auch laute Rufe nach einer EZB-Zinswende aus der Runde kommen und gar die Schuldfrage der Notenbank offen angesprochen wird, erfrischt: Hier scheint wirklich mal ein tiefergehender Blick auf das Thema Inflation geworfen zu werden. Die Runde zumindest hat deutlich mehr Tiefgang als die zuletzt immer flacheren Ukraine-Talks bei Plasberg. Auf das Land im Krieg wurde sich in der Runde zwar doch noch bezogen: Brigitte Büscher lieferte statt der üblichen Zuschauerkommentare einen Film über einen zwischen Berlin und der Westukraine pendelnden Getreidebauern, der seinen Posten in Europas „Kornkammer“ erst räumen will, wenn Putin auch dort alles platt macht und das von Exportstopps und Lieferkettenlücken ohnehin schon bedrohte Getreide vollends verrottet und nirgends mehr hingeliefert werden kann, weder zum Bäckermeister Hinkelmann noch nach Afrika. Auch das hat, bei allem Respekt vor der Zuschauerbeteiligung, am Ende mehr Erhellendes als ein Facebook-Kommentar.

Dass der Ukraine-Krieg zur Inflation beiträgt, bestätigen alle: Aber keiner tut so, als wäre er die einzige Ursache. Der Krieg hat höchstens endgültig den Deckel von der Büchse der Pandora gesprengt – geöffnet haben ihn andere. Dass das nicht unter den Tisch gekehrt wird, zeichnet den relevantesten „Hart aber Fair“-Talk seit Langem aus.

Anzeige

Die mobile Version verlassen