Anne Will ist keine Fernsehsendung, Anne Will ist ein Ritual. Zu diesem Ritual gehört die Zeit-Redakteurin, die unbedingt die grüne Politik verteidigt und neuerdings die Ampelkoalition lobt, obwohl sie sich darin an der FDP stört. Diese Rolle hat die Redaktion dieses mal mit Petra Pinzler besetzt. Doch sie trägt gleich zu Beginn der Sendung einen Gedanken vor, der aus dem üblichen Rahmen fällt: Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe zwar diese Woche zum Volk gesprochen und ein Sozialversprechen abgegeben. Doch Pinzler vermisst ein „Wir-Gefühl“, das sich aus solchen Auftritten ableiten soll. EIne Botschaft, die lautet: „Wir brauchen Euch.“
Dass ein solches Land kein Wir-Gefühl kennt, ist ein interessantes Thema. Wie wir zurück zu einem Wir finden, ist eine spannende Frage. So interessant und so spannend, dass diese Fragen von Anne Will nicht aufgegriffen, sondern durchlaufen gelassen werden. Sie will das Ritual zelebrieren, das für den späten Sonntagabend vorgesehen ist. In dem Politiker mit Politikern Politikerfloskeln austauschen. In dem eine grüne Journalistin und drei Ampelvertreter einem von der CDU gegenüber sitzen – und in dem die Redaktion für die Rolle der Opposition einen wie Norbert Röttgen aussucht, der so viele Wahlen wie kaum ein anderer verloren hat. In der Partei und beim Wähler.
Zu dieser zweiten bis xten Reihe gehört Nina Scheer (SPD). Sie ist bekannt dafür, dass sie die Nachfahrin eines Vordenkers ist. Der Rest ihrer Politkarriere baut auf der Frauenquote auf. Als sie gemeinsam mit Lauterbach um den SPD-Parteivorsitz kandidierte, wurden die beiden auf Platz vier durchgereicht. Scheer verwaltet die Gedanken ihres Vaters zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Nur nicht so weitsichtig. Nicht so pointiert dargestellt. Und mit jedem Tag, mit dem Nina Scheer das geistige Erbe ihres Vaters verwaltet, rückt es einen Tag näher der Gefahr, überholt zu sein. Sie selbst kommt auf Ideen wie: Wenn Menschen ihren Energieverbrauch nicht reduzieren wollen, um Geld zu sparen, muss man ihnen Geld geben, damit sie ihren Energieverbrauch reduzieren.
Die Zeit-Journalistin gießt der Ampel weiteren Wermut ins Glas. Nach knapp einem halben Jahr Krieg habe Habeck immer noch keine Strategie entwickelt, wie das Land Gas sparen könne. Seine Kampagne, mit Vorschlägen wie kürzer Duschen, verpuffe ohne Wirkung. Stattdessen wirke die Bundesregierung „wie ein Nikolaus mit einem dicken Sack, wo jeden Tag ein anderer reingreift“, um soziale Versprechen abzugeben. Dafür, wie wenig vorausschauend die Bundesregierung agiert, gibt Katrin Göring-Eckardt (Grüne) ein bestmögliches Beispiel. Sie ist Vizepräsidentin des Bundestags. Dass „halt mal ein Hallenbad zumachen muss“, sei in diesem Winter möglich. Aber die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke komme für sie erst in Frage, wenn Krankenhäuser ihren Betrieb sonst nicht mehr aufrecht erhalten könnten. Dass der Entschluss, die Atomkraftwerke weiter betreiben zu wollen, dann zu spät käme, kommt der Studienabbrecherin nicht in den Sinn – Anne Will übergeht das auch. Genau so wie sie die Grüne mit Tatsachen verschont wie dem Widerwillen anderer EU-Länder, sich Habecks Stromsparplänen anzuschließen. Oder seiner Unfähigkeit, den Transport der Kohle zu organisieren, mit der Kohlekraftwerke als Ersatz für Gaskraftwerke laufen sollen.
Dass die Will-Sendung Themen nicht weiterbringt, ist nichts Neues. Wollte sie das, müsste die Redaktion andere Oppositions-Vertreter als Röttgen einladen, der sich gegen die dauerhafte Laufzeitverlängerung ausspricht und sich auch sonst von den anderen vier Gästen überfahren lässt. Und doch bringt die Sendung Erkenntnisse. Sie führt vor, warum Dinge bei uns scheitern. Woche für Woche hält Will an dem Thema Pendlerpauschale fest. Hält es künstlich am Leben. Es ist ein Thema, das die FDP in der öffentlichen Debatte verloren hat, weil sie den Meldungen der ersten Tage über die vermeintliche Wirkungslosigkeit nichts entgegen zu setzen hatte.
Als es um die Pendlerpauschale geht, findet Pinzler wieder in die ihr zugedachte Rolle der Grünen-Versteherin zurück: Die Pauschale sei böse. Sie fördere Autofahren, Flächenzersiedlung und sei somit ein Klimakiller. Dagegen stottert Röttgen hilflos an. Dann fordert die Runde, die Grundsicherung anzuheben. Da widerspricht Röttgen nicht. In der wichtigsten Talkshow des Landes ist es kein Wort wert, dass die Leute, die Morgen für Morgen zur Arbeit fahren, dieses Land am Leben erhalten. Erwähnt werden sie nur im Zusammenhang mit der Zerstörung des Klimas. Während die gleiche Runde darüber redet, wie das von diesen Menschen Erarbeitete dann an andere verteilt werden soll. Es geht also kein Ruck durch ein Land, in dem Arbeit als etwas Schlechtes dargestellt wird und Nicht-Arbeiten belohnt werden soll. Im Studio von Anne Will versteht das keiner – außerhalb tun das immer mehr.