Anne Will diskutiert über den gestrigen Holocaust-Gedenktag. Auch für diejenigen, die das journalistisch aufarbeiten sollen, kein leichtes Unterfangen. Für irgendwelche Verhaltensweisen über Politiker und sich wichtig nehmenden Journalisten bei Anne Will dürfte dieses Mal kein Platz sein. Noch weniger, wenn man in den Ankündigungen erfährt, dass Esther Bejarano mit dabei sein wird. Die 93-Jährige Deutsche jüdischen Glaubens überlebte Auschwitz, wo sie im so genannten „Mädchenorchester“ den Weg der Juden zur Vernichtung durch Arbeit musikalisch begleiten musste. Bejarano gehört heute zu den letzten Überlebenden, die noch als junge Erwachsene ins Vernichtungslager Auschwitz kam.
Nun muss man hier zuvorderst die Frage stellen, warum es neben Frau Bejarano noch weiterer Gäste bedarf. Ist so ein Leben zu erzählen nicht jede Minute der besten Sendezeit wert, noch mehr, wenn wir aktuell einen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland erleben?
Noch schwieriger wird es, wenn man vorher recherchiert, dass Esther Bejarano durchaus keine ausgewiesene Kritikerin der muslimischen Zuwanderung nach Deutschland ist. Sie setzt sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und Antisemitismus ein. Wer die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten erlebt hat, wer dann als Auschwitz-Überlebende seit den 1960er Jahren wieder in Deutschland lebt, der weiß um den nie ganz verschwunden Antisemitismus auch der Kinder und Enkel der Täter.
Nun denn, ebenfalls eingeladen ist Monika Grütters. Sie ist CDU-Politikerin und Staatsministerin für Kultur und Medien. Sie ist aktiv in der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe. Wenzel Michalski ist Direktor bei Human Rights Watch Deutschland. Sein Vater überlebte den Holocaust in einem Versteck. Michalskis Sohn wurde an der Gemeinschaftsschule in Berlin-Friedenau von muslimischen Mitschülern beschimpft und gewürgt, weil er Jude ist. Als die Mitschüler ihn mit einer täuschend echten Replika-Pistole bedrohten und eine Scheinhinrichtung mit Kopfschuss an ihm vollzogen, nahmen die Eltern ihren Sohn von der Schule.
Sawsan Chebli ist Berlins Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. 2017 gründete sie den Berliner Arbeitskreis gegen Antisemitismus. Sie ist umstritten, vielen gilt ihr Arbeitskreis als ein Täuschungsmanöver: Er kam aus dem Nichts und operiert ohne Kontakt zu anderen Gruppen, von denen es viele in Berlin gibt. „Auch das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus ist nach eigenen Angaben vorab „nicht im Geringsten“ informiert worden. „Wir sind die Bildungs- und Monitoring-Experten und werden nicht mal gefragt, obwohl wir seit Jahren dabei sind“, sagt Sprecher Levi Salomon. „Wir können das nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.“ Auch andere Organisationen zeigten sich irritiert,“ schreibt DIE WELT.
Chebli, die von der SPD als Nachwuchs-Politikerin aufgebaut wird, war längst selbst in den Verdacht geraten, radikalen islamischen Gruppen nahezustehen und deren Moscheen zu besuchen. Dient ihr Verein dazu, den latenten Antisemitismus zu tarnen? Eine spannende Frage. Sie wird an diesem Abend nicht diskutiert, und doch schimmert die Antwort immer wieder durch, wenn Chebli redet. Julius H. Schoeps ist Historiker und Politikwissenschaftler. Nebenberuflich ist er Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien.
„Holocaust-Gedenktag – wie Antisemitisch ist Deutschland heute?“, fragt Anne Will. „Wir haben uns riesig auf sie gefreut, toll dass sie da ist.“, begrüßt Anne Will Esther Bejarano und stellt sie als „Antifaschistin“ vor.
„Ich werde so lange singen, bis es keine Nazis mehr gibt auf dieser Welt“, sagt die alte Dame, die bis heute mit Kapelle auftritt und gegen den Faschismus ansingt. Es hätte nach 1945 keine Aufklärung über den Holocaust gegeben, erzählt Frau Bejarano zunächst. Und sie hätte erleben müssen, dass Adenauer viele Nazis wieder in Stellung gebracht hätte, während weitere ins Ausland geflüchtet seien. Schnell wird klar, die Perspektive einer 93-Jährigen reicht weit über den schmalen Fokus unserer schnelllebigen Zeit hinaus.
„Ihr habt keine Schuld an dem, was damals geschah. Aber ihr macht Euch schuldig, wenn ihr nichts darüber wissen wollt.“, würde sie immer Schülern in Schulklassen erzählen. Tatsächlich hatte die WELT noch 2017 herausgefunden, dass vier von zehn Schülern nicht wissen, was „Auschwitz“ ist. „Nur 59 Prozent der deutschen Schüler ab 14 Jahren wissen, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrationslager der Nazis war.“ Nun kann man an dieser Stelle kaum verhindern, sich die Integrationsfrage zu stellen. Die Vorfahren unserer Migranten gehören nun mal nicht zur Tätergeneration. Für Jugendliche aus deutscher Familie müsste der Bezugspunkt auch heute noch ein anderer sein, selbst dann, wenn die Bindung zum eigenen Vaterland, seiner Kultur und Geschichte in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu erodieren scheint.
Zwischenbemerkung: Für eine 93-Jährige mit dieser schrecklichen Lebenserfahrung wirkt Esther Bejarano auf eine Weise frisch und beredt, wie man sich das wohl für sich selbst wünscht, sollte man das Glück haben, so ein gesegnetes Alter überhaupt zu erreichen.
Anne Will fragt nach SS-Leuten, ob die mal irgendwann so etwas wie Menschlichkeit gezeigt hätten. Die alte Dame erzählt von einer SS-Frau aus Saarbrücken, wo sie selbst herkam, diese Frau sei sehr menschlich gewesen, von der hätte man nichts zu befürchten gehabt. Was für eine verstörende Frage eigentlich. Warum und wozu? Merkwürdig. So merkwürdig, wie die Frage gewesen wäre, ob auch mal die Sonne geschienen hätte. Und gleichzeitig überlegt man sich auch, wie oft Frau Bejarano schon solche und viele andere Fragen beantwortet hat.
Als Frau Bejarano über Israel erzählt, wünscht man sich eine zweite Kamera auf Sawsan Chebli gerichtet, denn sie ist das zweitjüngstes Kind einer palästinensischen Familie, die 1970 nach Deutschland gekommen waren.
Für Esther Bejarano ist Deutschland nach wie vor antisemitisch. „Es gab keine Entnazifizierung in Deutschland.“, ist ihre Erinnerung. Monika Grütters betont, dass Fünf Millionen jährlich die Gedenkstätten besuchen. „Der Staat kann natürlich keine Gesinnungsprüfung vornehmen, er kann nur Angebote machen. (…) Was wir tun, ist jedenfalls ein ehrlicher Versuch.“ Frau Grütters ist aber guter Hoffnung, wenn sie in den Gedenkstätten „sogar bei fünfzehnjährigen Jungs Tränen in den Augen“ sehen würde. Das wäre der Beweis für die Wirkung, nämlich die Entstehung von Empathie und Einfühlungsvermögen.
Monika Grütters wünscht sich eine emotionale Haltung gegenüber etwas, das sonst nur im Geschichtsbuch steht. Das mag für den Holocaust auf besondere Weise gelten, für etwas, dem man sich rational wahrscheinlich überhaupt nie zur Gänze nähern darf, sollte und kann, für den generellen Blick auf Geschichte allerdings und die Lehren die daraus zu ziehen sind, dürfen Emotionen allenfalls nachgereicht von Bedeutung sein. Ist es doch gerade die Überemotionalisierung, die Ideologien den Weg bereiten. Der Nationalsozialismus mit seinem emotionalen Pathos ist dafür das düsterste Beispiel.
Wenzel Michalski ist Jude in Deutschland. Sein Sohn wurde von Muslimen so sehr drangsaliert, dass er von der Schule genommen werden musste. Wir würden seit Jahrzehnten auf die Straße gehen und sagen: Wehret den Anfängen. Dabei würden wie aber gar nicht mitbekommen, dass die Anfänge ja da sind. In den 1960er, 70er, 80er und 90er hätte man gedacht, diese Anfänge kommen irgendwann mal, aber später. „Aber jetzt sind wir in einer Situation, wo die Anfänge wieder da sind.“ Esther Bejarano ergänzt: „Wir sind nicht am Anfang, wir sind mittendrin.“
Bisher kein Wort von Michalski zu den Tätern an seinem Sohn. Immer deutlicher wird jetzt: muslimischer Antisemitismus muss endlich aus dieser Kammer des Verschweigens befreit werden. Denn zweifellos ist er der kommende. Dafür spricht auch, dass 78 Prozent der Juden, die man befragte, angeben, der Antisemitismus hätte in den letzten fünf Jahren in Deutschland zugenommen. Aber noch zieht niemand bei Anne Will die naheliegenden Schlüsse.
Antisemitismus, Hass, Intoleranz. Darf man diese Begrifflichkeiten wirklich nebeneinander stellen? Zwingt uns der massenmörderische Antisemitismus deutscher Vorfahren tatsächlich zu Toleranz gegenüber einem muslimischen Antisemitismus? Nein, perverser könnte ein Fazit kaum ausfallen.
Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelsohn Zentrums betont es trotzdem noch einmal: „Der Antisemitismus war immer schon da in Deutschland“. Er hält den Antisemitismus für eine kollektive Bewusstseinskrankheit. Und auch er argumentiert mit Zahlen aus der unsäglichen „Enthemmte-Mitte“-Studie. Nun bestreitet niemand, dass es Antisemitismus in Deutschland nach wie vor gibt. Und das er stärker geworden ist. Aber warum sagt er nicht konkret, welche Gruppen innerhalb der Bevölkerung einen besonderen Anteil haben am Ansteigen dieses Antisemitismus in Deutschland?
Warum fragt Anne Will nicht mal konkret, ob womöglich der politische Islamismus diesen Anteil verstärkt? Warum fragt sie nicht, ob womöglich die Haltung gegenüber Israels Politik bei vielen Arabischstämmigen und Moslems in Deutschland Antisemitismus befördert? Ist die Sorge zu groß, es könnte wie ein Teilfreispruch für herkunftsdeutschen Antisemitismus aussehen?
Ob nun Antisemitismus allerdings als „kollektive Bewusstseinskrankheit“ zu bezeichnen ist, mag man ungescholten und zu Recht bezweifeln dürfen. Für Julius Schoeps ist Antisemitismus Teil der deutschen Kultur und er führt dafür ausgerechnet Wilhelm Busch an. Also den meistgelesenen Autor junger Menschen in Deutschland. Unfassbar in diesem Fernseh-Moment, das der islamistische und muslimische Antisemitismus, der neue Antisemitismus in Deutschland offensichtlich keine Rolle spielen soll oder darf. Und das trotz eingeladenem Fallbeispiel.
Woran das liegen mag, sollen Fachleute erarbeiten. Wir können hier nur Thesen anbieten, die zu diskutieren sind. So zum Beispiel die Frage, ob ein islamistischer und muslimischer Antisemitismus hier auch deshalb ausgeklammert wird, weil er geeignet wäre, deutschen Antisemitismus vom Holocaust zu entkoppeln. Für Julius Schoeps ist Antisemitismus tief im Deutschen verankert. Irgendein neuer Antisemitismus verstört hier offensichtlich die Denkweise.
Sawsan Chebli erwähnt es dann kurz vor Ende der Sendung, als sie zum ersten Mal zu Wort kommt, tatsächlich noch. Die Tochter palästinensischer Einwanderer meint, neu sei der Israel bezogene Antisemitismus. Aber so, wie sie es erzählt, könnte es auch der Israel bezogene Antisemitismus irgendwelcher linksextremen Gruppen sein. Und sie erklärt dann gleich die deutsche Geschichte zu ihrer Geschichte, wenn sie davon spricht, dass vor dem Hintergrund „unserer Geschichte“ der Antisemitismus hier keinen Platz haben dürfe. Die Frage darf erlaubt sein, ob Frau Chebli auch noch eine zweite Geschichte hat, nämlich die ihrer Eltern. Und ob da Antisemitismus doch irgendwie auf irgendeine Weise seinen Platz hat. Zu ihrem Schweigen zum Verbrennen von Davidsternen vor dem Brandenburger Tor fragte Will sie nicht.
Chebli spricht dann noch vom Wachhalten der Erinnerung. Auch das ist schon hunderte Male diskutiert worden. Natürlich kann man keine Erinnerung wach halten, die man selbst nicht haben kann. Man kann allenfalls die Erinnerung von Überlebenden zu Wort kommen lassen bzw. daran Gedenkarbeit leisten. Das müssen die Mittel der Wahl sein, Antisemitismus in Deutschland mindestens im Zaume zu halten. Ganz wird man ihn nie wegbekommen, man kann ihn nur immer wieder neu bekämpfen. Anne Will möchte aus der Erinnerung einen Auftrag ableiten.
Dann kommt Anne Will tatsächlich noch zum „vielleicht zugewanderten Antisemitismus.“ Sie sagt „vielleicht“ und fragt, ob da ein neues Problem auf uns zukäme, für das wir noch keinen Umgang gefunden hätten.
Der deutsche Antisemitismus ist also nach Julius Schoeps eine „kollektive Bewusstseinskrankheit“ und der muslimische Antisemitismus „nur” eine Art Antizionismus? Na klar, diese armen neuen Antisemiten sind nur in einem „anderen Umfeld sozialisiert“, weiß Sawsan Chebli erklärend anzufügen. Jeder, der in diesem Land lebt, müsse sich mit dessen Geschichte auseinandersetzen.
Was aber wäre der Umkehrschluss? In Palästina und anderswo hätte der Antisemitismus noch einmal eine andere Daseinsberechtigung? Sawsan Chebli möchte mit Besuchen von KZ’s auch muslime Einwanderer immunisieren gegen Antisemitismus mit entsprechender Nachbesprechung. Da sei ein Beitrag dazu.
Wenzel Michalski erzählt dann noch von der Gemeinschaftsschule in Berlin-Friedenau, dessen Schulleitung wohl vor allem Verständnis gezeigt hätte für die muslimischen Schüler, die seinen Sohn angegriffen hätten. Der Mitschüler würde diese Jungs aggressiv machen, wenn er als Jude in der Klasse sei. Er wurde geprügelt, getreten, geschlagen, gewürgt und musste schlussendlich sogar noch eine Scheinhinrichtung über sich ergehen lassen.
Ja, und dann war es das schon. Esther Bejarano hat tiefen Eindruck hinterlassen. Aber was war das drumherum? Was muss noch passieren, damit endlich die Gefahr erkannt wird, wenn doch jeder in der Runde betont hat: Wehret den Anfängen? Vielleicht ist es für alle ein schwieriger Lerneffekt, dass die wirksamen Abwehrmechanismen gegenüber deutschem Antisemitismus hier nicht recht greifen wollen. Esther Bejarano befand sicher zu Recht, Adenauer hätte Deutschland nicht entnazifiziert, aber den zugewanderten Antisemitismus der Jetztzeit konnte Adenauer gar nicht in seine Schranken weisen, den gab es zu der Zeit in Deutschland nicht.
Sawsan Chebli liefert dann noch ihre eigene Erklärung, die auch ein stückweit die Leitidee der Sendung reflektieren mag: Noch nie sei die Bereitschaft der Migranten so groß gewesen, auf jüdische Organisationen zuzugehen. „Weil sie natürlich auch sehen, dass da, wo Antisemitismus herrscht, ganz häufig auch Islamfeindlichkeit und Moslemhass da ist.“ Na, dann ist ja alles gut. Dann sollten wir uns wie gehabt weiter um den herkunftsdeutschen Antisemitismus kümmern. Da wissen wir doch, wie es geht. Der muslimisch-islamistische scheint sich ja nach Sawsan Chebli sowieso in Wohlgefallen aufzulösen. Möglicherweise ja, weil er eh nur ein dummes Missverständnis war und keine kollektive Bewusstseinskrankheit wie bei den Deutschen.
Wenn bei Anne Will dieser Eindruck bleibt hat ja ihre Vereinsgründung den Zweck erfüllt. So geht SPD-TV.