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Luhmann für die Gegenwart: Die Lösung für das Demokratie-Dilemma

Die Fragen, die sich jetzt stellen: Kommen wir nicht mehr klar mit unserem politischen System? Droht das Ende der Parteipolitik oder gar des Politischen, wie wir es kennen? Am Ende kommt man wohl nur mithilfe der Systemtheorie zu einer Lösung des Dilemmas der deutschen Politik.

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Es gibt Twitterer und Twitterer. Durch Zufall stolperte der Autor dieser Zeilen unlängst über einen »Organisationsforscher« an der Universität Oldenburg, der ein relativ unterhaltsames Account unterhält. Marcel Schütz (*1984) hat einmal »Bildungsmanagement« studiert und gibt sich in seinen Tweets als Luhmann-Adept, der auch seinen Kittler zu kennen scheint. Aber wem sage ich das? Kennt irgendjemand außerhalb der geistes- und kulturwissenschaftlichen Seminare Niklas Luhmann (1927–1998) oder Friedrich Kittler (1943–2011)? So viel sei nur gesagt: Einmal fuhren beide zusammen Taxi, und der etwas ältere und erfahrenere Luhmann beschied den etwas jüngeren und immer schon heißspornigeren Kittler, dass es durchaus keine Postmoderne gibt. Es gebe nur die moderne Post. Das ist vermutlich ein Insider-Witz für die von geisteswissenschaftlichen Modeerscheinungen Gequälten. Neben solchen – vielleicht auch nur hübsch erfundenen – Anekdoten kann man dem Twitter-Acccount von Marcel Schütz zudem einige interessante Splitter zum Zeitgeschehen entnehmen.

Denn Schütz, der in Buchform schon mal den »lokalen Boykott der Bologna-Reform« unter »Beibehaltung des Diploms im Ingenieurstudium« thematisiert hat, macht sich daneben Gedanken über den aktuellen Zustand der deutschen Politik und publiziert sie in hübschem Luhmann-Deutsch zu je 140 Zeichen. Ob sich das verstehen lässt? Einen Versuch ist es wert. Als Einleitung bietet sich der folgende Tweet vom 12. Februar an:

— Marcel Schütz (@schuetz_marcel) February 12, 2020

Wunderbar ist vor allem dieses »Der Rest findet sich«. Wie ein Puzzle, das sich von alleine zusammensortiert. Man wünscht es jeder Diskussion, worüber auch immer, und denkt an das Hegel’sche »Es hat keine Schwierigkeit zu wissen, dass…«. Platonismus ist doch zu etwas gut: Erst kommen die Ideen, dann die lästige Realität. Als Wissenschaftler gehört Schütz zu den Glücklichen, die sich einer Meinung enthalten und doch etwas Substantielles zu politischen Debatten beitragen können.

Zwei Tage vor diesem Tweet – die Thüringer Ministerpräsidentenwahl lag da gerade fünf Tage zurück – hat Schütz sich an einer systemtheoretischen Analyse, ja einer richtiggehenden Lösung des AfD-Dilemmas der deutschen Politik versucht. Stützen konnte er sich dabei zweifellos auf älteres Nachdenken. Schon im Sommer 2019 hatte er ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Horst Meier geführt, in dem Meier eine hierzulande allgemein verbreitete »Lagermentalität« feststellt, die sich unerquicklich in »Endlosschleifen« wiederholt und zu paradoxen Umentscheidungen führt, was beispielsweise die gewünschte Tätigkeit oder nicht des Verfassungsschutzes angeht:

»Jene Leute, die noch vor ein paar Jahren wegen der Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds den Verfassungsschutz in die Tonne treten wollten, forderten in jüngster Zeit, dass er nun doch bitte benutzt werde, um die AfD zu beobachten. Das sind Spiele und Rankünen der innenpolitischen Ausgrenzung.«

Und zu den Demonstrationen nach dem Chemnitzer Totschlag sagt Meier:

»Diese Leute haben Gefühle und sie können sich irren. Aber es ist ihr gutes Recht, auf die Straße zu gehen. […] Migrationsfragen werden sehr kontrovers diskutiert. Und mir fehlt in allen politischen Milieus etwas, das man Respekt vor dem politischen Gegner nenne könnte; vor seiner Anschauung und der Ausübung seiner Grundrechte.«

Ein Punkt kehrt in beiden Zitaten wieder: die angestrebte, bald geheimdienstlich oder verfassungsrechtlich, bald medial oder gesellschaftlich zu organisierende Ausgrenzung einer Gruppe mit abweichender Meinung. Von einer anderen Ansicht desselben Problems geht Schütz auch in seiner Tweet-Serie von diesem Februar aus.

»Für den Umgang mit der AfD«, heißt es da, müsse man zunächst einmal »zwei Ebenen trennen«. Da sei zum einen »die programmatische Bewertung« der neuen Partei. Das ist das Eine, das für manchen vielleicht für immer und ewig feststehen wird.

Ein anderes sei die »parlamentarische Bearbeitung« des sich aus der Verschiedenheit der Positionen ergebenden Konflikts. Sie steht auf einer ganz anderen Ebene und muss daher auch gar nicht vollständig aus der »programmatischen Bewertung« abgeleitet werden.

Immerhin sprechen wir über Verfassungsorgane, die – jenseits von allem Parteienstreit – von einiger Bedeutung sind (also frei gewählte Abgeordnete und derlei mehr). Die Frage bleibt, ob diese Unterscheidung für unser formloses Zeitalter überhaupt noch als Gedankengang zählt. Muss nicht jede Form, und sei sie noch so ehrwürdig, sich heute direkt vor dem Inhaltsurteil verantworten?

Die Unterscheidung zwischen Form und Gehalt funktioniert nicht mehr

Die Unterscheidung der beiden Dimensionen (Inhalt und Form) funktioniert derzeit allgemein sehr schlecht, so auch in unserem konkreten Fall. Für Schütz steht sie im Fall der AfD »unter Vorbehalt« oder ist eher noch von »Kommunikationslatenz« betroffen. Damit ist wohl das oberflächliche Fehlen und dennoch Anwesen von Kommunikation gemeint. Man kann eben nicht nicht kommunizieren. Auch wenn man es ständig vor sich herträgt, wie blöd und indiskutabel man eine Gruppe doch findet, spricht man gerade damit über diese Gruppe und indirekt über ihre Ansichten. Linksradikale heben dieses Paradoxon häufig an der politischen Mitte hervor und schlagen noch gewaltsamere Umgangs- und Antwortarten für die auszuschließenden Gesellschaftsgenossen vor.

Darüber hinaus bleibt es natürlich bei Schütz’ Schlussfolgerung: »Man nimmt sich dadurch eigene Möglichkeiten.« Mit einer solchen Umgangsweise hätte man also gleich zweierlei verloren: Die eigene argumentative ›Unschuld‹, quasi Unbeflecktheit vom AfD-Diskurs und die Chance, das eigene negative Problem (und die positiven Anliegen anderer Menschen) wirklich zu diskutieren. An dieser Stelle wird wohl allmählich eine Entscheidung zwischen Politbüro (»top-down«, deduktiv) und demokratischem Diskurs (»bottom-up«, induktiv) fällig.

Leistungsstörung im parlamentarischen Betrieb

Der zweite Tweet vertieft diesen Gedanken: »Das Credo lautet unerschütterlich, dass jegliche verfahrensmäßige Normalisierung zu verhindern sei. Die Folge dessen liegt auf der Hand: die Normalisierung von Unnormalität und damit eine verstetigte, sich selbst verstärkende Leistungsstörung im parlamentarischen Betrieb.«

Von einer Leistungsstörung kann man wohl sprechen, doch geht sie sicher über missglückende Ministerpräsidentenwahlen in einem äußerst idyllischen Duodezfürstentum (Ramelows Sicht auf Thüringen) hinaus. Man denke etwa an die Bundestagsausschüsse, die für das Funktionieren der parlamentarischen Kontrolle von vitaler Bedeutung sind und nicht auf die derzeit größte Oppositionspartei verzichten können. Vielleicht auch an das halb-zeremonielle Amt des Bundestags(vize)präsidenten.

Der dritte Tweet fragt danach, ob und wie die bis jetzt beschriebene Lage überwunden werden kann: »Tatsächliche Effekte sind absehbar nur noch über einschneidende taktische und geradezu ›originelle‹ Überwindungen der Altparteien zu erwarten. Die Maßnahmen würden von bisheriger Resistenz deutlich abweichen. Man müsste mehr vom Gerichtsprozess lernen statt vom Parteiprogramm.«

»Originell« ist hier das Schlüsselwort. Darunter wird wohl nichts gehen. Man sollte sich nicht verdrießen lassen. Das Funktionieren des parlamentarischen Systems hängt davon ab. Und warum nicht mit den Mitteln des Gerichtsprozesses experimentieren? Wir verstehen den Lösungsvorschlag hier natürlich rein metaphorisch: Niemand soll vor Gericht gestellt werden, nur das öffentliche Gespräch etwas weniger emotional, dafür etwas fakten- und verfahrensbasierter werden. Die Unschuldsvermutung, das Recht auf einen Anwalt und das Recht zu Rede und Gegenrede wären keine schlechten Voraussetzungen für den parlamentarischen und den medialen Dialog. Das würde auch Respekt und Achtung für alle Teilnehmer bedeuten.

Entkoppelung von der Realität

Im vierten und letzten Tweet geht Schütz das wahrhaft Phantastische der bisher beschrittenen ›Lösungswege‹ an: »Im Ergebnis kommen m. E. zwei gewichtige Punkte zusammen: 1. Eine Stabilisierung der AfD ist nicht nur mittelfristig und nicht nur in geringem Ausmaß erreicht. 2. Kritik/Abwehr stützt sich weiterhin auf die Erwartung rhetorisch-symbolischer Bewältigung. Folge: Entkoppelung.«

Das wäre in der Tat ein gewichtiger Befund: dass sich die politische Rhetorik von der Realität entkoppelt hat und vielleicht noch mehr entkoppeln wird. Es ist zugleich tragisch, denn worum soll es bei politischer Rhetorik sonst gehen als um die Beschreibung der Realität und die sprachliche Bewältigung ihres So-und-nicht-anders-Seins, der je spezifischen gegebenen Probleme? Wenn das wegfällt, braucht man keinen politischen Diskurs. An seine Stelle tritt laut Schütz – und man kann ihm leicht rechtgeben – eine weitgehend »rhetorisch-symbolische Bewältigung« der Lage und die Erwartung, dass diese hinreiche.

Die gröbste Form hat die Sache wohl angenommen, wenn heutige Parteien wahlweise als Exponenten des »Faschismus« bezeichnet werden oder sich als 156-jährige Kämpfer gegen ein politisches Phänomen ausgeben, das selbst nicht älter als 105 Jahre ist. Der wiederbelebte, irgendwie nach linken Splittergruppen und DDR riechende »Faschismus«-Begriff ist rhetorisch, insofern ihm meist keine inhaltliche Erläuterung beigesellt wird. Es reicht, den Kuckuck auf die Sache zu kleben. Die zuhörende Menge akzeptiert die Behauptung mangels Widerspruch.

Bei diesem Manöver handelt es sich aber nur um die neueste Avantgarde der politischen Symbolik in Bezug auf die AfD und schon um eine Verschärfung. Zuvor existierte eine andere Kategorie, welche die Partei vor allem als Kraft des Populismus einordnete. Auch der Populismus-Vorwurf ist aber stets an äußerlichen Kriterien orientiert und vor allem symbolisch zu verstehen. Er läuft auf die Frage hinaus, ob das Volk ein kollektives Downgrade verdient hat. Ach ja, es geht noch gröber und schärfer: Man zeichne einfach eine Linie von der Wahntat eines Verwirrten zur politischen Rechten und von da zum organisierten Rechtsterrorismus (Marke NSU). Doch das sind nun wirklich drei ziemlich verschiedene Dinge. Wahn, überall Wahn. In die Flucht geschlagen, meint er zu jagen.

Lohnt es aber überhaupt, das Andersdenken Andersdenkender in dieser Weise heiß zu diskutieren und sich davon zu distanzieren, wo doch wichtige Sachthemen gemeinsam zu besprechen wären? Für viele offenbar schon. Eine andere Frage ist, ob die Gesellschaft insgesamt so viel Zeit, Muße und Energie übrig hat. Das dürfte auf die Dauer nicht der Fall sein. Ermüdungserscheinungen sind zu erwarten. Zudem wirkt das Schauspiel, das sich heute meist auf elektronischen Mattscheiben darbietet, schon jetzt ziemlich neurotisch – wie ein leeres Ritual, über dessen Sinn niemand so recht bescheid weiß. Die Durchführung solcher Rituale wäre vielleicht eine sublime Angelegenheit, wenn es sich um wirkliche Mysterien handelte wie beim Hantieren mit Kiste und Korb in Eleusis. Aber das ist hier anders. Die Sinnlosigkeit ist ganz diesseitig und real gegeben.

Am Ende noch ein gewissermaßen abschließendes Wort zum Thema:

Die Frage scheint zu sein, wo diese berühmte »Mitte« denn nun liegt, in der alle zusammenfinden, und was eigentlich passiert und passieren soll, wenn wir uns alle gemütlich dort eingefunden haben.

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