Noch vor Ostern will der Guide Michelin Deutschland zur Neuvergabe seiner begehrten „Sterne“ schreiten. Am 26. März blickt die heimische Gastrowelt gebannt nach Hamburg, wo heuer im Rahmen einer Gala in der altehrwürdigen Handelskammer die rote „Fressbibel“ des Jahres 2024 präsentiert wird. Der gelbe Gault & Millau, jüngst in Turbulenzen wegen eines Rechtsstreits mit dem (russischen) Lizenzinhaber, erscheint erst im Herbst. Vorab wurden vom Guide Michelin schon mal die Namen jener 15 Gasthäuser verkündet, die sich neuerdings mit einem Bib Gourmand schmücken können, jener Auszeichnung, die für eher bodenständige und vergleichsweise preiswerte Gasthäuser verliehen wird.
Wer traditionelle Küche schätzt, wird am ehesten unter diesen Adressen fündig. In der Luxuskategorie von einem bis drei Sternen ist ganz überwiegend ein internationaler Fusionstil anzutreffen, der als „kreativ“ oder „modern“ umschrieben wird. Kreativität ist das Zauberwort, wenn sich ein Koch Meriten in den Restaurantführern erwerben will. Ohne beständigen Innovationsgeist geht gar nichts. Wer nur auf höchstem Niveau und mit den besten Zutaten Rezeptklassiker „nachkocht“ und vielleicht mit dem einen oder anderen persönlichen Akzent versieht, wie es in früheren Zeiten üblich war, kann kaum damit rechnen, in den Olymp der Kochkunst aufgenommen zu werden.
Als Nonplusultra international anschlussfähiger Kochkunst gelten Kompositionen, die so kunterbunt daherkommen wie ein Legobaukasten. Alle Geschmackrichtungen, Aromaten, Texturen und Zubereitungsarten dieser Welt werden zeitgleich oder innerhalb eines Menüs präsentiert und jedes Detail soll idealerweise einer „Geschmackexplosion“ gleichkommen. Denn neben Innovation zielt die Instagramküche vor allem auf Effekt.
Die Vielfalt ist oft so verwirrend, dass auch bemühte Erklärungsversuche der Servierdamen- und herren, die mit dem kleinen Finger auf dies und jenes deutend über dem Teller herumfuchteln, keine Orientierung versprechen, denn sobald man Messer und Gabel zur Hand genommen hat, fragt man sich: War dieser Miniaturtupfen gerade eben die mit Miso aufgeständerte Mayonnaise. Und die glasigen Partikel links davon das fermentierte Irgendwasgemüse? Und handelte es sich bei dem salzigen Knusperteil wirklich um den auf der Speisekarte annoncierten Parmesancrisp? Fragen über Fragen.
Ins Langzeitgedächtnis schaffen es solche Kreativitätsexzesse trotzdem nicht. Dazu sind die Gerichte zu kompliziert, zu zerfasert, zu technisch, ganz abgesehen von den oft winzigen Mengen der einzelnen Bestandteile, die man mit der Messerspitze vom scheppernden Keramikteller abkratzen muss, um ihrer habhaft zu werden. Ganz abgesehen von den penetranten Ingredienzien des Woke-Zeitalters, die man am liebsten überhaupt nicht wahrnehmen möchte, die Nachhaltigkeitspoesie grün angehauchter Speisekarten. Jeder, der sich etwas auskennt, weiß, dass nichts so wenig nachhaltig ist wie Sternerestaurants mitsamt ihrem weitgereisten Publikum.
Bezeichnenderweise erinnert man sich meist vor allem an jene gradlinigen, auf wenige Produkte und Zubereitungsarten fokussierten Speisen, wie man sie manchmal noch in guten Gasthöfen findet, das „geile Cordon bleu“, den „genialen Kartoffelsalat“ oder das „Wahnsinns-Schweinegulasch“. Gerichte zum „reinsetzen“, von denen man am liebsten gleich noch eine weitere Portion bestellen möchte. Gourmetküche wird zur Kopfküche für ein von Essvorschriften und Umweltgeboten umzingeltes Publikum und vielen Köchen scheint es fast peinlich zu sein, dass am Ende alles eine Etage tiefer landet, im Bauch nämlich.
Was auf der Strecke bleibt, ist der Genuss.