Tichys Einblick
Aufgegessen

Steckerlfisch im Luxusrestaurant

Innovation und Kreativität ist alles in der Hochgastronomie. Jetzt werden auch Biergarten- und Jahrmarktsspezialitäten zur Sterneküche geadelt. Eine polemische Betrachtung zum Auftakt des Münchner Oktoberfestes. Von Georg Etscheid

Oktoberfest in München mit Steckerlfisch

IMAGO

Mit dem Münchner Oktoberfest, vulgo Wiesn, beginnt für kulinarisch anspruchsvollere Menschen eine Zeit des Schreckens: Ledrige Brathendl, die stundenlang am Spieß rotieren, bevor sie nur mäßig warm auf dem Teller landen, verbruzzelte Kalbs- und Schweinshaxen, deren Flachsen man nach dem Mahl mit dem Zahnstocher zwischen den Zähnen hervorfummeln muss, dazu wahlweise holziger oder wässriger „Radi“ (Rettich), Obazda aus der Industrietrommel, „frische“ Brezn aus dem Aufbackofen, nichtssagender Wurstsalat. Was es so gibt an „zünftigen“ Klassikern. Zu Höchstpreisen, versteht sich, selbst wenn es sich nicht um ein Biohuhn handelt.

Schließlich der furchtbarste aller Biergarten- und Rummelplatzgenüsse: Steckerlfisch. Empfindlichere Naturen nehmen schon Reißaus, wenn sie nur wenige Moleküle der fettigen, nach verbrannter Fischhaut riechenden Rauchschwaden erschnuppern, die einem aufrecht stehenden Grill entsteigen, vor dessen Rost die armen Fische an langen Stangen („Steckerl“) aufgereiht ihrem Feuertod entgegensehen.

Wenn es sich wenigstens um Forellen, Saiblinge, Renken handeln würde, die sich in voralpinen Gewässern tummeln. Doch meist sind es billige Makrelen, die penetrantesten und unfeinsten Fische, die sich auftreiben lassen und die bislang meist, ertränkt von Tomatentunke, in der Dose landen. Eine ganze gegrillte Makrele lässt sich nur im Zustand fortgeschrittener Alkoholisierung vertilgen. Zwei Maß Bier, also zwei Liter, darunter geht nichts. Die schlügen heuer auf der Wiesn mit satten dreißig Euro zu Buche.

Leider begegnet man der Makrele längst nicht mehr nur im Biergarten, sondern immer häufiger auch in der gehobenen Gastronomie. Als sadistische Hommage an den Steckerlfisch etwa „geflämmt“, also kurz mit dem Küchenbunsenbrenner traktiert. Mir wurde eine solche Kreation in einem sonst sehr angenehmen, mit einem Michelinstern dekorierten Gasthaus in Ostbayern serviert. Das gebeizte, dann mit offener Flamme behandelte und wegen des hohen Fettanteils der Makrele extrem dominant schmeckende Filet überließ ich gerne meiner Begleitung und widmete mich mit umso größerem Genuss der leckeren Muschelkomposition drumherum.

Auch Süßes vom Jahrmarkt hat längst Eingang in die von Innovationen aller Art nachgerade besessene Hochgastronomie gefunden. Mohrenköpfe respektive Negerküsse scheinen es bislang zwar noch nicht in die Sterne- und Haubenküche geschafft zu haben, vielleicht weil sich das Wort „Schokoladenschaumkuss“ auf den minimalistischen Speisekarten unserer Tage etwas sperrig ausmachen würde. Dafür bekommt man zum Abschluss eines Menüs immer mal wieder handgefertigte Marshmallows serviert. Die wattigen Süßigkeiten bestehen aus Eiweiß, Zucker, Farb- und Aromastoffen sowie einem Geliermittel. Früher war das der Saft des Echten Eibischs, von dem sich der englische Name Marshmallow für „Sumpf-Malve“ ableitet. Heute nimmt man meist Gelatine, was die Sache wenig besser macht.

Marshmallows sind besonders in den USA beliebt. Manchmal werden sie vor dem Verzehr auf einem Grill erwärmt oder (auf Stöcke gespießt) über einem Lagerfeuer geröstet. Damit schließt sich der Teufelskreis zum Steckerlfisch. Und zur Zuckerwatte. Einmal kredenzte man mir in einem angesehenen Restaurant in Südtirol eine mit Karamell überzogene Portion Zuckerwatte zum Nachtisch. Da hilft dann auch kein Zahnstocher mehr, sondern nur noch der Gang zur Toilette, um sich den klebrigen Mund und die nicht weniger pappigen Finger abzuwischen.

Sehr beliebt bei Patissiers ist auch Karamell-Crumble, der in der Kakophonie unterschiedlichster „Texturen“ auf dem Teller für den supertollen Cruncheffekt sorgen soll. Dahinter verbirgt sich eine modernistische Abwandlung von gebrannten Mandeln, jenes unsterblichen Jahrmarktklassikers, der vor allem von Zahnärzten geschätzt wird. Glücklicherweise gibt es heute Varianten mit „wenig Zucker“ und einer entsprechend zahnschmelzfreundlicheren Karamellummantelung.

Nach dem Oktoberfest ist vor den Weihnachtsmärkten, wo man es dann mit einer Plörre namens Glühwein zu tun bekommt. Zwar werden mittlerweile auch anständigere Qualitäten ausgeschenkt, die als „Winzerglühwein“ gehandelt werden. Doch für viel mehr als Kopfweh ist diese urdeutsche Spezialität meist nicht gut. Zum Glück gönnt uns der Kalender bis Advent noch ein paar Wochen Galgenfrist.


Dieser Beitrag wurde bereitgestellt von Aufgegessen.info, dem Blog für freien Genuss.

Die mobile Version verlassen