Heute, auf dem Weg durch unsere Innenstadt, erkannte ich den Grund für eine allfällige Beunruhigung: Es ist die ubiquitäre Funktionskleidung, die mich irritiert. Wie in der Kulisse zu einem Science-Fiction-Film laufen überall Menschen in tarnfarbenen Allwetterklamotten herum, auch wenn die Sonne scheint. Und als sensibler Mensch frage ich mich: Was hat das zu bedeuten?
Da war diese nette Familie, offensichtlich auf Städtereise, die vor meinen Augen um unsere Sehenswürdigkeiten stiefelte, eingemummelt von Kopf bis Fuß in Goretex und andere wasser- und kälteabweisende Hightechfasern, so als ginge es zur Wanderung nach Lappland. Eine Familie, mitten in Frankfurt, als hätte sie bei den DMAX-Krabbenfischern angeheuert. Und: Sie war nicht allein!
In England deutet man die Befindlichkeiten der Deutschen schon lange anhand ihres Äußeren. Dortige Studienkollegen machten sich gerne einen Spaß daraus, vor mir „Spot the Germans“ – erkenne die Deutschen – zu spielen. Die Erfolgsquote: nahezu 100 Prozent. Auf die Frage, woran man meine Landsleute denn so leicht erkenne, nannten sie damals noch: Haarschnitte und Brillen. Erstere deshalb, weil deutsche Männer damals einen Scheitel zogen. (Der Friseur: „Einen Scheitel wollen wir doch nicht, oder? Ich mach Ihnen so einen Windstoß vorne rein.“) Und weil Frauen stets zu Henna und asymmetrischen Haarschnitten neigten (mit einem spitzigen Ohrring dazu, an der kurz geschnittenen Seite; sieht man heute noch bei Ämterbesuchen). Und Brillen konnten zu einem Merkmal werden, weil fast alle Deutschen – aufgrund des damals noch krankenkassenbedingten blühenden Optikerwesens – eine trugen („Es ist zwar nur ein kleiner Sehfehler, aber ich würde an Ihrer Stelle die Brille trotzdem immer tragen.“)!
Hintergrund dieser Erscheinungen waren unsere kollektiven Ängste. Lag doch der Ablehnung des Scheitels die Furcht zugrunde, durch Frisierfehler die Wiederholung tragischer Irrtümer der Geschichte Vorschub zu leisten – ganz ähnlich der mittlerweile verbreiteten Vorsicht, die Zahl 88 noch irgendwo zu benutzen.
An der Vorliebe für Brillen erkannte man das tiefenpsychologische Bedürfnis, um jeden Preis den Überblick behalten zu wollen im Kampf gegen die dunklen Seiten der teutonischen Psyche, die mancher jetzt ja in Mitteldeutschland wieder aufleben sieht. Durch diese abwehrenden Elemente des Self-Styling war es ein leichtes für die Engländer, Deutsche auf Anhieb zu identifizieren.
Der Deutsche huldigt dem Hightech
Doch was bedeutet es, dass man die Deutschen heute in erster Linie an ihrer Funktionskleidung erkennt? Ein Ehepaar, ein Waldarbeiterteam darstellend, am Piccadilly Circus? Germans! No doubt about that!
Genau wie man in den 50er-Jahren zwangsläufig in einem grauen Straßenanzug, weißem Hemd und schwarzen Schuhen unterwegs sein musste, huldigt der moderne Deutsche heute dem Hightech. Nach wie vor allerdings gern in den Tarnfarben braun, grau, schwarz. Man flaniert mittlerweile auch in vollklimatisierten Kaufhäusern, in Kinos oder Museen, als sei man stand-by für ein Überlebenstraining in der Tundra unterwegs: wasser- und windabweisend von Kopf bis Fuß, frostgeschützt bis minus 30 Grad.
Vorbei die Zeiten, als Stadtbewohner sich, nicht nur in Italien, auch im Winter nur ein leichtes Jäckchen und Schälchen überwarfen. Oder Frauenkleider so prekär waren, dass sich längere Aufenthalte an der frischen Luft regelrecht verboten. Vorbei die Zeiten, in denen man nicht wegen jeder raschen Besorgung Kleidungsaufrüstung wie im Krieg betrieb.
Heute gehen Angestellte in vollklimatisierte Konferenzräume wie Erdölingenieure auf ihre Bohrinseln, mit ölabweisenden Wanderstiefeln und Anoraks über den Anzügen, die früher nur Pistenwarte bei Skiabfahrtsläufen in Nordnorwegen trugen. Referentinnen wagen sich in überdachte Shoppingcenter nur unter Fellkapuzen, mit denen Amundsen jede Polarexpedition gemeistert hätte. Die Aktentaschen: Kleine Kampfrucksäcke – Hände frei! – oder unzerstörbare Kuriertaschen aus Lastwagenplane, die auch größere Kletterpartien schadlos überstehen. Kurz: Man ist „bereit“. Aber wofür? Welche Befindlichkeit drückt sich darin aus?
Hier hilft ein analytischer Blick auf die Funktion der Funktionskleidung. Wozu und wann fühlt man sich bemüßigt, sie zu tragen? Doch immer dann, wenn man funktionieren will oder muss. Und wann will man? In Gefahrensituationen. Die Frage muss deshalb lauten: Wählen die Deutschen die Funktionskleidung, weil sie glauben, dass es gefährlich wird? Und: erklärt sich so mein Unbehagen? Spüre ich etwa, dass die Deutschen auf etwas reagieren, wovon ich selbst noch nichts weiß? Auf etwas Großes? Unangenehmes?
Vielleicht sehe ich ja Gespenster und habe nur rein ästhetische Probleme mit den Anoraks und Walkingschuhen. Birkenstocks gibt es ja auch schon seit Jahrzehnten, und sie haben mit keine nennenswerte Angst eingejagt. Zunächst einmal zeigen Funktionsklamottenträger ja nur eine gewisse Naturverbundenheit. Wer in der Stadt herumläuft, aber Klamotten trägt wie bei einem Treck durch die Eiswüste, der signalisiert: Geistig bin ich draußen. Mein Herz sehnt sich nach einem Einsatz auf dem Walrettungsboot bei Greenpeace. Insofern wären die Funktionsklamotten eine verständliche, aber ungefährliche persönliche Reaktion auf die Erfordernisse der Zeit. In einer Umgebung wie der unseren kann es durchaus nötig sein, zum persönlichen Fortkommen einige positive Signale in Richtung derjenigen zu senden, die uns so genau beobachten: Rot-Grün. „Virtue signalling“ wäre das dann. Harmlos.
Lieber Förster sein als Schnösel
Das Gleiche gilt mit Einschränkung in Richtung „Linke“. Wer Funktionsklamotten trägt, zeigt, dass er den Sicherheiten der Zivilisation und den trügerischen Errungenschaften des Kapitalismus skeptisch gegenübersteht. Seine Heimat ist die Einfachheit, die Wildnis. Wenn man gerade in Berlin sozial nicht anecken will, kann das durchaus hilfreich sein. Lieber Förster sein als Schnösel. Auch hier: Kein Grund zur Panik.
Funktionsklamotten wären nach diesen Hypothesen lediglich ein harmloses Zugeständnis an den Zeitgeist.
Es wäre aber auch Besorgniserregendes denkbar. Richtet sich nicht derjenige, der stets besonders stabile und ausgeklügelte Funktionskleidung trägt, innerlich darauf ein, dass es für ihn bald nicht mehr ausreichend neue Kleider geben wird? Dass er sich darauf einstellen muss, dass es zu Hause nicht mehr unbedingt immer warm sein wird? Dass man bald – ohne Autos – größere Strecken zu Fuß unter freiem Himmel zurücklegen oder mit dem Fahrrad fahren muss? Wer dazu noch Tarnfarben wählt – sorgt er damit nicht auch dafür, dass er nicht immer und überall in der Stadt oder im Wald gesehen werden kann?
Kurz: Wer allen Ernstes in einer normalen, wettergeschützten urbanen Situation Funktionskleider trägt, bereitet der sich nicht auf etwas vor? Und wenn ganz viele mitmachen, ist das dann die vielbeschworene Schwarmintelligenz? Die auch unbewusst das Gras wachsen hört? Ich werde das auf jeden Fall beobachten. Und Fjällräven- oder Jack-Wolfskin-Sachen wenn schon nicht tragen, so zumindest auch bereithalten. Im Keller. Neben den Konserven und dem Trinkwasser …
Karl Napp ist freier Publizist.