Tichys Einblick
Vinologische Frühlingsgefühle

Ist der Winter vorbei, öffnet die Keller!

Der Frühling ist da und der Wein, der im Herbst eingelagert wurde, kommt aus den Kellern hervor. Zeit, die nachdenkliche Stille mit schwerem Roten durch einen frischen Weißen zu ersetzen und sich unter Gesellschaft zu begeben. Von Ingo Swoboda und Aufgegessen.info

Symbolfoto: Füllen der Weingläser mit Wein zur Verkostung Darmstadt Hessen Deutschland

IMAGO / HEN-FOTO

Waren das herrliche Zeiten, als der Jahresverlauf noch in Frühling, Sommer, Herbst und Winter eingeteilt war, und auch der unbedarfte Zeitgenosse an der sogenannten gefühlten Temperatur erkennen konnte, welcher Monat gerade angesagt war! Heute hat der viel zitierte Klimawandel die Menschen weitgehend aus dem verlässlichen Jahreszeitenrhythmus geworfen und einige Zeitgenossen starten in die heißersehnte Grillsaison unmittelbar nach Dreikönig im Januar. Wie sollen da Frühlingsgefühle aufkommen? Und wann endet der Winterschlaf?

Der Blick in den abwechselnd grauen und blauen Himmel scheint darüber keine Auskunft mehr geben zu wollen. Der Anruf beim Winzer dagegen entpuppt sich immer mehr als jahreszeitlicher Sicherheitsfaktor. Lautet die Antwort des Weinmachers „le beaujolais nouveau est arrivé“ können sie sicher sein, dass ihnen bis Weihnachten nur noch wenige Wochen Zeit bleibt. Denn die jungen roten Franzosen kommen bereits kurz nach der Ernte im nasskalten November in die Flaschen und dann geradewegs in die Gläser. Was von einer treuen Fangemeinde als Zeichen schneller effektiver Winzerkunst sehnsüchtig erwartet wird, klingt für andere Weinfreunde wie die erschütternde Fanfare der bevorstehenden Apokalypse der europäischen Weinkultur und dem damit verbundenen Triumph der geschmacklichen Banalität. Vive la France!

Gut Ding will Weile haben

Doch bei aller Kritik an dem vinologischen aber erfolgreichen Marketinggag der Franzosen: die schnelllebige und hektische Zeit duldet keinen Aufschub, konsumiert in einer Geschwindigkeit, die vielen Winzern – vor allem in den klassischen europäischen Weinbauländern – die Tränen in die Augen treibt. Dass die wahre Eleganz in der Langsamkeit liegt, ist nicht nur das Credo der Mannequins auf den internationalen Laufstegen, sondern sollte auch das Motto eines genussreichen Weinlebens sein. Das gilt natürlich für den Konsumenten ebenso wie für den Wein. Der braucht Zeit und die Ruhe einiger Kellermonate, um sich in voller Pracht entwickeln zu können.

Zu schnell wird heute nach den jungen und jüngsten Weinen gegriffen, ein vinologischer Zustand, den viele Kenner mit dem hässlichen Wort „Kindermord“ umschreiben. Auch hier liegt ein Funke Wahrheit. Die Internationalität der Weinwelt, das Angebot aus Anbaugebieten rund um den Globus hat viele Konsumenten verwirrt. Wann kommt denn welcher Wein neu und frisch auf den Markt? Zwar bleibt der Vegetationsverlauf der Reben überall gleich, nur die Jahreszeiten der Südhalbkugel sind denen der Nordhalbkugel entgegengesetzt. Während also beispielsweise in unseren Gefilden die Menschen noch im Wintermantel auf die Straße gehen, werden in Neuseeland bereits die ersten Chardonnay-Trauben geerntet. Umgekehrt heißt das: Wenn die Mehrzahl der europäischen Winzer sich noch Gedanken über den Lesebeginn machen, stehen die Weine aus Übersee zum größten Teil, schon in den Regalen. Wie schön, dass wir die Wahl haben. Nur darf man die Anbaugebiete nicht verwechseln, sonst kann die Bestellung im Restaurant peinlich werden.

Junger Wein, junges Jahr

Werden ihnen also frische Rieslinge, duftende Grüne Veltliner, herzhafte Silvaner, geschmeidige Chardonnays oder grasige Sauvignons blancs aus europäischen Breiten offeriert, können sie relativ sicher sein, dass der Frühling Einzug ins Land gehalten hat und Ostern bevorsteht. Denn was im Herbst in die tiefen dunklen Keller läuft, kommt im europäischen Frühjahr strahlend und dynamisch wieder an die Oberfläche. In aller Regel füllen die Winzer vor allem ihre Weißweine der einfacheren Qualitäten ab dem Monat März, damit die Gemeinde den frischen Rebensaft ohne lange Wartezeiten genießen kann. Zur Freude des Winzers und natürlich des Weintrinkers. Oder sagen wir besser des Weingenießers, der nach mehr oder weniger langen Wintertagen endlich wieder milde Morgenluft schnuppern möchte und gespannt ist, wie sich der neue Jahrgang präsentieren wird. Denn die neue Saison macht Lust auf Entdeckungen und öffnet die Sinne für Gefühle, die sich im wahrsten Sinne des Wortes im Weingenuss ertränken lassen. Moderat versteht sich, der Blick ins Weinglas soll Lebensfreude widerspiegeln und einen gewissen, je nach Qualität des Weines, bejahenden und positiven Lebensstil signalisieren und nicht zum Absturz führen.

„Savoir vivre“ im Zeichen des Weines, über kein anderes Getränk, Champagner ist übrigens auch Wein, definiert sich der Genießer besser, nachhaltiger und überzeugender als über ein gutes Glas Wein. Und kein anderes Getränk bietet jährlich diese Vielfalt an Geschmack, Ausbaumethoden und Qualitäten wie der Wein. Wo immer er wächst auf der Welt, seine Herkunft kann er nur schwer verleugnen und er bleibt damit ein Getränk, das im besten Fall – und allein mit diesem sollten sie sich beschäftigen – individuelle Züge und die Handschrift des Kellermeisters trägt. Billige Industrieplörre mit gebasteltem Standardgeschmack natürlich ausgeschlossen.

Den Wein und den Frühling sollte man in Gesellschaft begehen

Wein sollte demnach nicht im stillen Kämmerlein getrunken werden. Denn wo immer Reben angebaut werden, haben sich die Menschen eine gelassene Fröhlichkeit zugelegt, triumphiert eine herzliche Gastfreundschaft in unzähligen Weinlokalen und Gutsschänken und verbindet Einheimische und Fremde in einer genüsslichen und friedlichen Allianz. Die erscheint wie ein Privileg des Weines, bierschwere Wirtshausraufereien sind dem Rebensaft weitgehend unbekannt. Im schlimmsten Fall kommt es in Weinlaune zum Absingen bekannter Volksweisen und emotionsgeladenen Verbrüderungsszenen zwischen Freudentränen und liebenswerter Euphorie. Studien verschiedener Universitäten haben gezeigt, dass Weingenuss in Gesellschaft zu einer wesentlichen Stimmungsverbesserung führt. Dieses von den meisten Menschen subjektiv empfundene Phänomen ließ sich sogar wissenschaftlich bestätigen. Die Befindlichkeit verbesserte sich umso stärker, je schlechter sie am Anfang war. Nach der geselligen Weinrunde schätzten die Versuchspersonen ihren aktuellen Gesundheitszustand und den der vergangenen Woche günstiger ein. Wenn das kein Grund zum Wein trinken ist! Aber es bleibt dabei: nur moderater Weingenuss ist empfehlenswert.

Mag sein, dass gerade im Frühjahr, wenn sich die Natur mehr oder weniger aus der Winterdepression quält und das Land wieder angenehm farbig macht, der Genießer auch zu neuen Kräften kommt und in ihm die Lust aufs Neue wächst. So oder so. Vorbei die Zeit der schweren Rotweine am knisternden Kamin, die die Zunge lähmen und den Schlaf so lange provozieren, bis die arme Seele Ruhe hat. Im Frühjahr sind frische, spritzige Weine angesagt, Weine die die Zunge lösen, die Gespräche und zwischenmenschliche Kontakte leichter machen. Die alte Binsenweisheit „wo man Wein trinkt, da lass’ dich ruhig nieder“ hat durchaus eine soziale Komponente, trinken ist eben doch oder auch ein Bedürfnis der Seele. Ob darin immer die Wahrheit liegt, sei dahingestellt. In jedem Fall aber erzählen Weine wahre Geschichten, süffige Storys vom Winzer, der ihn aufgezogen und gepflegt hat, und meist mit einem lachenden – weil wirtschaftlichen – und einem weinenden Auge weggeben hat. Weine erzählen auch Geschichten von ihrer Heimat, dem Weinberg, dem Klima und dem Boden, was gemeinhin unter dem Zauberwort „Terroir“ die Runde durch die Weinszene macht. Wein ist immer eine Entdeckungsreise in eine Landschaft, in die Tiefen der Natur und ihrer Launen, eine Lustreise in den eigenen Geschmack und im besten Fall eine Reise mit Wiederkehr. Denn wer Wein trinkt, ihn dabei genießen kann, wird erkennen, dass der Rebensaft weit mehr als nur vergorener Traubensaft ist, sondern immer auch der Spiegel eines Vegetationsjahres und ein Stück Kultur aus einer Region, die vom Weinbau geprägt ist. Das Frühjahr bietet die besten Chancen, die ganze Vielfalt der Weinkultur quasi aus „erster Hand“ zu erleben und den noch jungen, vielleicht auch ungestümen und noch nicht voll ausgereiften Wein in seinem ersten Stadium zu erleben und zu genießen. Das Frühjahr ist ja schließlich auch nicht das Ende der Saison. Manchmal kann es nur noch besser werden. Na dann, Prost!


Dieser Artikel wurde für Tichys Einblick von Aufgegessen.info verfasst.

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