Tichys Einblick
Moralisierung der Geschichtswissenschaft

Kulturkrieg in den USA: Wenn Althistoriker zu Rassisten erklärt werden

Die Zukunft der Geschichtswissenschaft und die Moralisierung der akademischen Welt: werden wissenschaftliche Debatten in Deutschland und Europa demnächst ähnlich stark politisiert sein wie in den USA?

Dass an den amerikanischen Universitäten die sogenannten „culture wars“, die die amerikanische Gesellschaft spalten, mit besonderer Heftigkeit ausgetragen werden, dürfte mittlerweile weithin bekannt sein. Allerdings sind die Gefechte doch recht einseitig, denn Vertreter explizit konservativer Positionen gibt es in den Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten mit Ausnahme vielleicht einiger kleinerer Provinzhochschulen und einzelner Privatuniversitäten oder gesonderter Forschungsinstitute wie der Hoover Institution in Kalifornien oft kaum noch. Wer in einer öffentlichen Diskussion einmal den falschen – politisch nicht korrekten – Begriff verwendet oder durchblicken lässt, dass er  z. B. nicht an „affirmative action“ (die Bevorzugung von Frauen und Minderheiten jeder Art gegenüber weißen heterosexuellen Männern, mit dem Ziel, sie für frühere oder aktuelle Diskriminierungen ihrer Identitätsgruppe zu entschädigen) glaubt, der riskiert seine Karriere. Er muss damit rechnen, dass Kollegen, die ihm vielleicht auch aus ganz anderen Gründen nicht gewogen sind, eine politische Allianz mit linken Studenten schließen, um ihm – oder ihr – das Leben zur Hölle zu machen. Beispiele dafür gibt es genug. 

Aus europäischer und deutscher Perspektive erschienen solche Vorkommnisse in der Vergangenheit meist recht befremdlich. Dass diese Kulturkriege auf Deutschland übergreifen würden, glaubten nur wenige. Aber kann man sich da wirklich noch so sicher sein? Wenn man sich die Humboldt-Universität in Berlin ansieht, wo seit Jahren linke Studenten einen Kreuzzug gegen den prominenten Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski führen oder die Universität Hamburg, wo kleinere und größere Angriffe auf die Freiheit der Lehre in bestimmten Fächern schon fast zum Alltag zu gehören scheinen, wenn die Berichterstattung der Medien zutreffend ist, auch wenn nicht alle diese Vorfälle viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dann liegen in Deutschland durchaus die Voraussetzungen dafür vor, dass die Intoleranz, wie sie das Leben an amerikanischen Universitäten oft prägt, sich auch hier ausbreitet. Von daher ist man gut beraten, die akademische Szene in den USA, aber auch in Großbritannien, wo aus den USA kommende Entwicklungen sich rascher bemerkbar machen als bei uns, sehr genau zu beobachten. Was heute in den USA geschieht, könnte schon morgen die akademische Welt auch bei uns prägen.

Für manche linke Kritiker sind die meisten Althistoriker tendenziell Rassisten

Dort, in Amerika, ist es nun auffällig, dass auch Bereiche der Geisteswissenschaften in das Kreuzfeuer politischer Aktivisten geraten, die bisher als relativ unpolitisch galten, wie auch ein Artikel der FAZ vor kurzem zeigte (FAZ 27. 11. 19, S., N 4). Dazu gehören etwa die Alte Geschichte oder diejenige des Mittelalters. Die einschlägige altertumswissenschaftliche Internetzeitschrift Eidolon publizierte vor kurzem einen Beitrag der Herausgeberin Donna Zuckerberg mit dem vielsagenden Titel „Burn It All Down?“. Der Artikel sollte jüngere Altertumswissenschaftler zum radikalen Kampf gegen die bisherigen Traditionen des Faches aufrufen, denn die Altertumswissenschaften hätten sich in der Vergangenheit, so hieß es in dem Leitartikel von Zuckerberg, mit Faschismus und Kolonialismus verbündet und noch heute lieferten sie den Vertretern von Misogynie und einer Ideologie der White Supremacy Argumente für ihre menschenfeindliche Weltsicht. Nur eine radikale Reinigung der bisherigen wissenschaftlichen Traditionen, etwa im Sinne einer Dekolonialisierung und Feminisierung könne das Fach da noch retten. 

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Sicherlich würde es einem in der Tat nicht schwer fallen, in den Jahrzehnten zwischen 1920 und 1945 besonders in Deutschland und Italien Althistoriker und -philologen ausfindig zu machen, die mit dem Verweis auf die heroische Größe griechischer und römischer Tatmenschen die Männlichkeitsideale des Faschismus zu legitimieren versuchten, oder in Sparta ein Vorbild für einen modernen militarisierten Staat sahen. All das hat es natürlich gegeben. Aber Donna Zuckerberg, die übrigens die Schwester des unendlich reichen Facebook-Gründers Mark Zuckerberg ist, und persönlich sicherlich nicht zu den Mühsamen und Beladenen in dieser Welt gehört, geht es um mehr. Sie sieht in den bisher dominanten Darstellungen des Altertums ganz generell ein Reservoir für rassistische und frauenfeindliche Vorurteile. Schon die bloße Ansicht, Athen oder Rom hätten besondere zivilisatorische Leistungen hervorgebracht, etwa in Gestalt der griechischen Philosophie oder des römischen Rechtes, die andere Kulturen in dieser Form nicht aufzuweisen hätten, ist aus ihrer Sicht politisch höchst inkorrekt und faktisch rassistisch, weil damit die anderen Zivilisationen herabgesetzt würden. 

Manche Autorinnen des Blogs Eidolon machen die traditionelle Altertumswissenschaft dann sogar dafür verantwortlich, dass in den USA in der Vergangenheit afroamerikanische Jugendliche nicht den gleichen Zugang zu öffentlichen Schwimmbädern hatten wie weiße. Wie man sieht, kann man unter Titeln wie „Plato, Privilege, and the Pool. Discrimination in Swimming Has a Greco-Roman Pedigree“ die entfesselte Selbstanklage wirklich auf geradezu virtuose Höhen treiben, wie es der emeritierten Historikerin Karen Eva Carr in einem Artikel in Eidolon im Juli 2019 gelang.

Ist die Geschichte des „Westens“ ihrem Wesen nach böse?

Nun sind Urteile über die wirkliche oder vermeintliche Überlegenheit einzelner kultureller Traditionen immer bis zu einem gewissen Grade subjektiv und können in der Tat auch Ausdruck von Arroganz sein. Aber es würde wohl im liberalen oder linken Universitätsmilieu keiner daran Anstoß nehmen, wenn man darauf verwiese, dass zwischen dem 8. und dem, sagen wir, 12. Jahrhundert n. Chr. die arabische Kultur derjenigen der westlichen Christenheit in vielem überlegen war, wenn man auf Leistungen wie gelehrtes Wissen, Urbanität und Alphabetisierung blickt. Das zu behaupten, wäre eben durchaus korrekt, weil es ja nicht um weiße Männer und deren Traditionen geht. Wenn es aber überhaupt möglich ist, von einer Hierarchie von Kulturen mit Blick auf ihre zivilisatorischen Errungenschaften zu sprechen, dann ist es generell legitim, wertende Vergleiche zwischen Kulturen anzustellen, die eben auch zugunsten des Westens ausfallen können, freilich keineswegs notwendigerweise müssen. Natürlich darf man die vielen dunklen Kapitel in der Geschichte Europas nicht ausblenden, von den Kolonialkriegen über den atlantischen Sklavenhandel bis hin zu den ungeheuerlichen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Nur Gewalt und Eroberung sind keine Erfindung der Europäer. Imperiale Großreiche, die durch Eroberung entstanden sind, hat es auch außerhalb Europas gegeben und die Herrschaftsmethoden waren sicherlich nicht durchgehend menschenfreundlicher. 

"Der Wahnsinn der Massen"
Douglas Murray über die Diktatur der Minderheiten
Aber solche Argumente will man auf Seiten der Historiker, die dem „bösen Westen“, und allem, wofür Europa stand und steht, den Krieg erklärt haben, nicht hören. Da erstaunt es dann auch nicht, wenn manche Historiker bei Gelegenheit auch schon einmal implizit ihrem Bedauern darüber Ausdruck geben, dass es z. B. den Osmanen nicht gelang, bei Lepanto (1571) über die christlichen Geschwader, die sich ihnen in den Weg stellten, einen großen Sieg zu erringen, um anschließend zum Beispiel Süditalien zu unterwerfen. Statt dessen mussten die Osmanen einen hohen Blutzoll für ihre Niederlage gegen die vom Papst und Spanien geführte, freilich recht fragile christliche Koalition zahlen, ein Umstand, der beim modernen Betrachter, so ein einschlägiger Zeitungsartikel, eigentlich Erschütterung und Trauer hervorrufen müsse. (Stefan Hanss, FAZ 31. 3. 2019). 

Sicher, offiziell geht es hier vor allem darum, der Instrumentalisierung der älteren Geschichte Europas durch rechtsradikale Fanatiker, die es leider durchaus gibt, vorzubeugen. Faktisch verlässt man sich aber auf das fatale Argument des „Beifalls von der falschen Seite“, das auch in den politischen Debatten der Gegenwart viel Unheil anrichtet, weil man damit auch moderate konservative Positionen sofort tabuisieren kann. Alles, was der „falschen“, hier also völkischen oder fremdenfeindlichen Seite in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen irgendwie und sei es auf dem Umweg über noch so viele Fehlinterpretationen und Missverständnisse zur Ermutigung dienen könnte, muss aus unserem Geschichtsbild für immer verschwinden. Hinter solchen Säuberungen der Vergangenheit steht der Traum von einer „reinen“ Welt, die den Ballast älterer Epochen, die noch nicht so „divers“ und diskriminierungsfrei waren, wie unsere es sein will, wenn auch nicht immer ist, nicht mehr mitschleppen muss. Im Kern geht es um eine veritable Kulturrevolution im Dienste der höheren Moral und einer bestimmten, vermeintlich fortschrittlichen Ideologie.

Es kann dann freilich kaum überraschen, dass mittlerweile in den USA auch Mediävisten – eigentlich auf den ersten Blick heute eher harmlose Zeitgenossen, auch wenn das in der Tat nicht immer so war  – in den Verdacht geraten, kollektiv weißem Rassismus Vorschub zu leisten. Vor kurzem veröffentlichen zwei amerikanische Mittelalterspezialisten, Matthew Gabriele und Mary Rambaran-Olm – Rambaran-Olm ist eine Historikerin „of colour“, wie sie selbst nachdrücklich betont einen Artikel im Time Magazin, in dem sie quasi zur „Entgiftung“ der mittelalterlichen Geschichte, die sie als von Rassismus infiziert ansehen, aufriefen (The Middle Ages Have Been Misused by the Far Right. Here’s Why It’s So Important to Get Medieval History Right, Time, November 21, 2019). 

Diesem Artikel waren unterschiedliche, zum Teil sehr harte politische Auseinandersetzungen angelsächsischer Mediävisten auf Fachtagungen vorausgegangen. Aus der Sicht von Gabriele und Rambaran-Olm ist schon jeder Versuch, im Mittelalter Ursprünge eines spezifisch westlichen Individualismus zu suchen, der später die Entstehung moderner freiheitlich verfasster Gesellschaften im Westen begünstigte, zutiefst verwerflich, weil implizit rassistisch, denn jedes Bekenntnis zu einer möglichen Überlegenheit des Westens sei per se Rassismus.

Hier wird freilich übersehen, dass man sich auch ursprünglich fremde Kulturen durchaus aneignen kann, wie das ja die heterogenen ethnischen Gruppen, die in der Spätantike ins Römische Reich eindrangen, auch taten, so dass Kultur niemals der unveräußerliche Besitz irgendeiner vermeintlichen „Rasse“ ist. Ansonsten kann man in der Tat darüber streiten, ob die Wurzeln des westlichen Individualismus wirklich schon ins christliche Mittelalter zurückreichen, wie dies gelegentlich behauptet wird, aber die bloße Suche nach solchen Kontinuitätslinien schon als Ausdruck von Rassismus darzustellen, zeugt von einem Fanatismus ganz eigener Art. 

Ist die deutsche Universität gegen die Auswüchse linker Intoleranz gefeit?

Solche Auswüchse mögen einstweilen auf die USA und vielleicht im Einzelfall auch noch auf Großbritannien beschränkt sein, aber man sollte sich nicht einreden, dass wir in Zukunft vor ähnlichen Entwicklungen gefeit sind. In der Zeitgeschichte war ein moralistischer Diskurs, der Geschichte als Mittel der politischen Erziehung sieht, schon immer stärker verbreitet. Heute erklären uns Historiker des Kolonialismus gerne, dass wir unsere Geschichtssicht mit Blick auf Afrika radikal „dekolonisieren“ müssten. So dürfe Afrika nicht mehr in irgendeiner Weise als „exotisch“ erscheinen. Weil die Briten es zum Beispiel versäumt hätten, dies zu tun und sich nicht der Geschichte der eigenen Verbrechen gestellt hätten, träumten sie immer noch vom Empire, und deshalb hätten sie sich auch törichter Weise für den Brexit entschieden, so etwa stellte der außerordentlich einflussreiche Hamburger Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer die Dinge genial simplifizierend 2019 in einem Interview dar. 

Vermutlich wäre Zimmerer durchaus Befürworter eines radikalen dekolonialistischen Umerziehungsprogrammes einschließlich eigener Unterrichtseinheiten für „black history“, wie es die britische Labour-Partei an den Schulen für den Fall eines Wahlsieges durchführen wollte. Seltsamerweise hat dieses Konzept die Partei dann doch nicht zum Sieg geführt. Aber vermutlich würde Jeremy Corbyn, der glücklose Noch-Vorsitzende der Labour Party, dies ebenso wie andere Rückschläge mit den Worten kommentieren: „We won the argument, but I regret we didn’t convert that into a majority for change“ („Wir haben die Debatte gewonnen, aber konnten diesen Sieg leider nicht in eine Mehrheit umwandeln, die für einen Wandel eintritt“).

Neun Beispiele von „68 reloaded“
Schauplatz Universität: Es ist was faul an Deutschlands Hochschulen
Nur, eine moralistische „Dekolonisierung“ der Vergangenheit, die immer nur die Verbrechen des Westens und Europas zum zentralen Thema macht, wird die tiefen Gräben, die unsere westlichen Gesellschaften schon jetzt durchziehen, nicht zuschütten, sondern eher noch vertiefen. Wer weißen Männern immer nur erzählt, sie hätten keine vorzeigbare eigene Geschichte und ihre Hauptaufgabe seien Reue und Selbstanklage, darf sich nicht wundern, wenn solche Männer  dann jemanden wie Trump wählen, oder sich auf die Haltung einer radikalen inneren Opposition zurückziehen. Aber auch für die Geisteswissenschaften selber und hier speziell die Geschichtswissenschaft sind solche Ansätze existenzgefährdend. In den USA zeichnet sich ohnehin schon ein Niedergang der Humanities ab, wenn man auf die Absolventenzahlen der letzten 10 bis 15 Jahre blickt. Statt dessen florieren offenbar Fächer wie „Homeland security and law enforcement“. Ähnliche Niedergangstendenzen werden in etwas weniger ausgeprägter Form auch bei uns bereits sichtbar.

Die größte Gefahr bei einer solchen Moralisierung der Forschung besteht aber darin, dass die Geschichtswissenschaft denselben Weg beschreitet wie die „cultural“ und „identity“ oder „grievance studies“, die an amerikanischen Universitäten blühen. Nicht umsonst ist es in den letzten Jahren immer wieder gelungen, die absurdesten Scherz-Artikel (sogenannte „hoaxes“) in die vermeintlich hochkarätigen Zeitschriften solcher Disziplinen einzuschmuggeln, wie es jüngst noch Helen Pluckrose, auch sie von Haus aus eine Mediävistin, und ihren Mitstreitern James Lindsay und Peter Boghossian gelang. Dort, wo am Ende die antirassistische, feministische oder sonst wie höhere Gesinnung den Ausschlag gibt und nicht mehr das wissenschaftliche Argument, das auch politisch unerwünschte Erkenntnisse zulässt, ist das naturgemäß nicht allzu schwierig. 

Man kann nur hoffen, dass die Geschichtswissenschaft in Deutschland vor solchen Entwicklungen bewahrt bleibt. Allzu optimistisch sollte man da freilich mit Blick auf die nächsten 10 oder 20 Jahre eher nicht sein. Mit dem Appell an höhere moralische Werte kann man natürlich auch Rivalen innerhalb des eigenen Faches immer leicht diskreditieren. Diese Versuchung könnte für viele Kolleginnen und Kollegen zu groß sein, um ihr zu widerstehen. Die Resolution des letzten Historikertages in Münster (2018), die sicher auch den impliziten Zweck hatte, eher konservative Kollegen wirksam auszugrenzen und einzuschüchtern, zeigte, wie sehr namentlich jüngere Kolleginnen und Kollegen sich am „Tugendkult“ orientieren, der in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den USA weithin tonangebend ist. Ein gutes Omen für die Zukunft ist das nicht.

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