Tichys Einblick
125. Geburtstag von Alfred Hitchcock

Der Mann, der das Kino veränderte

Alfred Hitchcock wäre an diesem Dienstag 125 Jahre alt geworden. Der britische Regisseur gilt nicht nur als Klassiker. Seine Filme lassen sich heute immer noch gut anschauen.

IMAGO / KHARBINE-TAPABOR

Dissidenten fliehen aus der DDR. Sie sitzen in einem gefakten Linienbus. Der eigentliche folgt ihnen in fünf Minuten Abstand. Holt er die Flüchtigen ein, dann fliegen die Widerstandskämpfer auf. Ihnen droht Verhaftung, Folter, im schlimmsten Fall sogar der Tod. Keine fünf Minuten darf der Bus verlieren. Doch auf der Fahrt stellen sich Probleme ein.

So funktioniert „Suspense“. Die Technik, für die Alfred Hitchcock wie kein zweiter Regisseur steht. Es gibt Schrecken im Kino: Der Bösewicht scheint tot, dann springt er wieder auf. Zum Beispiel. Doch dieser Schrecken dauert immer nur wenige Sekunden. Suspense trägt den Film über ganze Sequenzen und steigert die Spannung ins Unerträgliche. Wenn etwa in „Der zerrissene Vorhang“ eine normale Bürgerin der DDR als Fahrgast in den gefakten Linienbus der Dissidenten einsteigt und diese sie mitnehmen müssen, um nicht aufzufliegen.

Suspense gehört zu den wichtigsten Elementen in Hitchcocks Thrillern. 125 Jahre alt wäre der Brite an diesem Dienstag geworden. Seine Werke waren ihrer Zeit so weit voraus, dass sie heute noch gut anzusehen sind. Für den Nachruhm des Regisseurs ist seine Fortschrittlichkeit eine tragende Säule. Zu Lebzeiten war es eine Last. Immer wieder musste Hitchcock sich dem „Hays Code“ beugen. Im freien Westen gab es zwar keine Zensur, aber dafür einen Code, dem sich alle Filmschaffenden freiwillig unterwerfen mussten.

Zum Beispiel in „Cocktail für eine Leiche“. Der Film aus dem Jahr 1948 ist eines der wichtigsten Werke Hitchcocks. Schon allein, weil er in den USA zum ersten Mal ohne künstlerische Auflagen durch seinen Produzenten arbeiten konnte. In „Cocktail für eine Leiche“ spielt die Homosexualität der beiden Mörder eine wichtige Rolle. Trotzdem darf sie Hitchcock des Hays Codes wegen nur andeuten. Das gelingt ihm aber so gut, dass sie jedem Zuschauer der Gegenwart offensichtlich wird.

„Cocktail für eine Leiche“ bricht ein weiteres Tabu des Nachkriegsfilms in Hollywood: Im Kalten Krieg war Deutschland von einem Feind zu einem Verbündeten geworden. Noch dazu einer, mit dem sich vorzüglich Geschäfte machen ließ. Filme, die den Holocaust aufgriffen, geschweige denn thematisierten, waren den Künstlern nicht möglich. Hitchcock setzte sich mit einer Parabel über das Verbot hinweg:

Phillip (Farley Granger) und Brandon (John Dall) erdrosseln zu Beginn des Films einen ehemaligen Mitstudenten, den sie für einen Dummkopf mit schlechten Manieren halten. Sie wollen damit die These ihres Professors Rubert Cadell (James Stewart) beweisen, nach der ein Mord kein Verbrechen sei, wenn das Opfer jemand sei, der unwert sei und von niemandem vermisst werde. Im Film widerlegt Hitchcock die These Cadells, damit führt er auch den Irrsinn der nationalsozialistischen Idee vom „unwerten Leben“ vor. In „Der zerrissene Vorhang“ greift Hitchcock den Holocaust ein weiteres mal bildlich auf. Wenn die Hauptfigur Michael Armstrong (Paul Newman) den deutschen Stasi-Agenten Herrmann Gromek (Wolfgang Kieling) in einem Gasherd erstickt.

Auch aus technischer Sicht ist „Cocktail für eine Leiche“ ein bemerkenswerter Film. Hitchcock drehte ihn in einer Einstellung. So entsteht für den Zuschauer der Eindruck, sich in Echtzeit auf einer Cocktail-Party zu befinden. Allerdings konnte Hitchcock seine Idee nicht gänzlich umsetzen. Er war seiner Zeit voraus. Damals ließen sich mit Filmbändern nur rund zehn Minuten am Stück drehen, dann mussten die Rollen gewechselt werden. Deswegen brauchte der Regisseur trotz aller Filmkunst Schnitte: Immer dann, wenn ein Band gewechselt werden musste, läuft eine Figur durchs Bild und deckt die Kamera mit dem Rücken ab, sodass der Schnitt nicht sichtbar ist.

Der Drang zu experimentieren, das Genre zu erweitern, trieb Hitchcock immer wieder an. Er führte auch zu seinem künstlerisch (und kommerziell) wichtigsten Film: Psycho (1960). Dessen Produktion ist eine Geschichte für sich: Die Filmbosse wollten den Streifen nicht, Hitchcock setzte all sein privates Geld ein und riskierte seinen persönlichen Ruin, dann wurde er während der Dreharbeiten krank und seine Frau Alma sprang als Regisseurin ein, damit die Dreharbeiten nicht verzögert werden – und die Kosten noch weiter steigen.

Viele Szenen aus Psycho sind ikonisch: die Frau, die am Fenster des Herrenhauses lauert. Die Duschszene. Anthony Perkins als Norman Bates in Frauenkleidern. Oder in der Zelle, in der er sich mit seinen multiplen Wesen unterhält. Hitchcock war wichtig, dass er die Geschichte filmisch erzählt: also so wenig Wissensvermittlung wie nötig über den Dialog. Stattdessen so viele Bilder wie möglich. Während Marion Cranes (Janet Leigh) Flucht fällt minutenlang kein einziges Wort.

Über seine eigene künstlerische Bedeutung hinaus hat Psycho das Konsumverhalten im Kino verändert. Bis dahin waren 24-Stunden-Kinos üblich: Der Zuschauer kam mitten im Film, der in Dauerschleife lief. Überzeugte ihn das Ende, sah er sich diesen nochmal an. Die damals üblichen Western und Melodramen ermöglichten es einem Zuschauer auch leicht, eine Handlung zu verstehen, der man erst nach einer Stunde folgte. Hitchcock wollte aber, dass keiner im Kino das Ende von Psycho kannte, um so dessen Überraschungseffekte zu vergrößern. Also wies er die Betreiber an, nach Beginn keinen mehr hineinzulassen. Das ließ sich nicht so ohne weiteres durchsetzen. Schließlich stellte es das Geschäftsmodell der Betreiber in Frage. Doch Psycho war kommerziell derart erfolgreich, dass es sich durchsetzen ließ – und die Tradition der 24-Stunden-Kinos anfing zu enden.

Die Psychoanalyse war ein wichtiges Thema für Hitchcock. Sie als Erster adäquat im Kino umzusetzen, war ihm ein wichtiges Ziel. 1945 näherte er sich diesem mit Spellbound (Ich kämpfe um dich). Die Psychiaterin Constance Petersen (Ingrid Bergman) versucht die Unschuld ihres Geliebten John Ballantyne (Gregory Peck) zu beweisen, indem sie dessen Psychosen heilt. Die Dramaturgie Spellbounds ist misslungen. Der Täter wird überführt, weil er sich schlicht verplappert. Trotzdem ist Spellbound in die Filmgeschichte eingegangen und heute immer noch ein erneutes Anschauen wert – allein durch die legendäre Traumsequenz, die Salvador Dalí gestaltete.

Spellbound ist auch deshalb missglückt, weil sich Produzent David O. Selznick permanent in die Dreharbeiten einmischte. Er hatte Hitchcock aus England in die USA geholt, wo der schon während des Stummfilms arbeitete, wollte aber dem Briten keine künstlerischen Freiheiten gewähren, sondern ihn eng an die Leine legen. So wie bei seinem Erfolg „Vom Winde verweht“, während dessen Dreharbeiten Selznick gleich mehrere Regisseure verschliss. Hitchcock war ein wichtiges Projekt für ihn. Selznick hatte „Vom Winde verweht“ bereits in jungen Jahren realisiert, wollte aber nicht, dass in seinen Nachrufen ausschließlich vom „Produzenten von Vom Winde verweht“ die Rede ist.

Erst in den 50er Jahren war Hitchcock von Selznick befreit. Es begann sein goldenes Jahrzehnt mit: Der Fremde im Zug, Bei Anruf Mord, Das Fenster zum Hof, Über den Dächern von Nizza, Der Mann, der zuviel wusste, Der unsichtbare Dritte und zur Krönung eben Psycho. Kühle Blondinen wie Grace Kelly und elegante Männer wie Cary Grant prägten diese Filme.

Das waren die seinerzeit üblichen Klischees in Agentenfilmen. Doch Hitchcock durchbrach diese Klischees. Die Blondinen sind keine Dummchen. Wie Grace Kelly in „Das Fenster zum Hof“ agieren sie eigensinnig und selbstbewusst, womit sie die Handlung nach vorne treiben. Die Männer bleiben nicht souverän, sondern sind auf die Hilfe der Frauen angewiesen. Auch werden sie von deren Sexualität überrollt. Wie Grant von Eva Marie Saint in Der unbekannte Dritte (North by Northwest). Hitchcock war seiner Zeit eben voraus.

Legendär für Hitchcock sind seine Cameo-Auftritte. In jedem seiner Filme tritt der Regisseur als Komparse selbst auf. Das wurde zu einem Markenzeichen seiner Arbeit – und Hitchcock selbst bald lästig. Er war der Meister der Suspense. Er wollte die Spannung auf den Film lenken. Deshalb war es für ihn ein Problem, dass viele Zuschauer nur darauf warteten, wann er im Bild zu sehen sein würde. Also taucht er in seinen späteren Filmen oft bereits in der ersten Viertelstunde auf – um diese Pflicht abgehandelt zu haben.

Trotzdem bleibt Hitchcock ein Meister der Präzision. Er hudelt mit den Cameos nicht. Er nutzt sie, etwa um seine Ironie und seinen zutiefst schwarzen Humor auszudrücken. Zum Beispiel im letzten seiner 53 Filme, Familiengrab (1976): Darin sieht der Zuschauer Hitchcocks berühmte Silhouette mit der markanten Nase und dem dicken Bauch – hinter einem Schriftzug: „Registratur für Geburten und Sterbefälle“. Vier Jahre später war der große Meister des Suspense tot.

Die letzten zehn Jahre seines künstlerischen Schaffens sind umstritten. Marnie ist durch die Erkrankung seiner weiblichen Hauptfigur verstörend, Der zerrissene Vorhang zwar noch ein klassischer Hitchcock. Aber für 1966 schon zu langatmig. Der Brite war da seiner Zeit nicht mehr voraus. Hinzu kamen der Verfall des eigenen Körpers, vor allem aber die Schlaganfälle seiner Frau Alma, die Hitchcocks Lebens – und Schaffenswilllen minderten.

Dennoch bleibt Hitchcock unvergessen. Der unsichtbare Dritte ist immer noch glänzende Unterhaltung für einen schönen Filmeabend. Ebenso wie das Fenster zum Hof oder Bei Anruf Mord. Psycho darf in keiner Sammlung der wichtigsten Filme aller Zeiten fehlen. Das Werk Hitchcocks ist vielfältig. Noch heute dauert es ewig, ihn zu beschreiben und muss selbst ein Internet-Autor viele Aspekte weglassen, um nicht zu langatmig zu werden. Als Selznick indes starb, titelten die Zeitungen: „Produzent von Vom Winde verweht verstorben“. Eine späte Genugtuung für Hitch.

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