Tichys Einblick
Die "Alles kann, nix muss"-Gesellschaft

Verfall der Konventionen: Jogginghosen an der Schule

Eine Schule sieht sich genötigt, Jogginghosen im Unterricht zu verbieten. Ganz offensichtlich wissen viele Schüler nicht mehr, was mit "angemessene Kleidung" gemeint ist. Damit passen sie gut in die "Alles kann, nix muss"-Gesellschaft.

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Es gibt dieses schöne Bonmot von Karl Lagerfeld: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Nun wird zwar kaum ein heute 15-Jähriger noch was mit dem Namen Lagerfeld anfangen können, aber man kann ihm ja zurufen: „Das war ein Influencer ohne Internet, der trotzdem Millionen Follower hatte.“

Der Mode-Zar jedenfalls würde es wohl begrüßen, dass eine niedersächsische Schule in den Klassenräumen keine Jogginghosen mehr sehen will. „Keine angemessene Kleidung“, so die Begründung der Schulleitung. Angemessen. Dieser Begriff lebt hier und jetzt sprachlich ebenso unterhalb des Existenzminimums wie die Formulierung „Das gehört sich nicht!“ Konventionen? In der postmodernen freiheitlichen „Alles kann, nix muss“-Gesellschaft wird munter drauf los dekonstruiert. Kein WIR, kein IHR. Alles fluide. Ist im Interesse von Diversity. Und ganz im Sinne des Freiheitsbegriffs von Margarete Stokowski, die hinter Kritik an omnipräsenten Jogginghosen Klassenhass wittert.

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Ich war neulich in einem Jazz-Konzert. Vorher hatten meine Frau und ich unseren Söhnen zu verstehen gegeben, dass sie sich chic machen sollen. Unser Großer trägt nicht gerne Oberhemden, aber an diesem Abend hat er es getan. Und unser Kleiner hat sich sogar (aus freien Stücken) ein Sakko übergeworfen. Ich staunte nicht schlecht, als ich im Konzertsaal feststellen musste, dass mindestens die Hälfte der Besucher in einem Outfit erschienen war, das ich von der Uni kenne (also aus sozialwissenschaftlichen Seminaren; in der Jura-Fakultät sah es sicherlich anders aus). Das einzige Argument, das ich an dieser Stelle durchgehen lasse, lautet Nachhaltigkeit. Quasi eine „All situation inclusive-Kleidung“. Riecht nur irgendwann nicht mehr so gut.

Aber im Ernst: So, wie Lehrer unter einen Aufsatz schreiben können: „Thema verfehlt!“, so kann hier und da auch kleidungstechnisch das Urteil fallen, dass ein äußeres Erscheinungsbild deplatziert ist (Barbara Vinken, die man wohl als Autorität in diesem semantischen Feld bezeichnen kann, hat im Radio schon mal darauf hingewiesen, dass viele Zeitgenossen nicht mehr wüssten, dass die Wahl der Kleidung durchaus eine situative Komponente hat). Wenn jeder machen kann, was er, sie oder es will, haben wir nicht absolute Freiheit, sondern Anarchie. Oder G20-Gipfel in Hamburg.

Vor kurzem fiel mir in einer Dokumentation auf, dass die Leute in Deutschland vor rund 100 Jahren nahezu durchweg elegant angezogen waren, wenn es sie in die Öffentlichkeit zog. Und am Sonntag ohnehin. Hat die heutige Attraktivität der Jogginghose (Herrgott, ich finde die auch bequem!) vielleicht mit fehlenden Vorbildern zu Hause und falschen im Netz zu tun? Mit Musikern aus YouTube-Videos, die dicke Autos fahren und Hammer-Miezen haben (darf man solch ein materialistisches Hetero-Szenario überhaupt noch ungestraft skizzieren?)? Vielleicht tragen ja auch die Typen, die mit dem Kommentieren ihrer Computerspiele online Geld verdienen, Jogginghose. Muss ich mal meinen Sohn fragen. Aber die dürften das dann auch, denn ihre Tätigkeit findet drinnen statt.

Ehrlich gesagt: Jogginghosen in der Öffentlichkeit, wann immer einem danach ist, das passt zu einer Gesellschaft, die zunehmend ihren Müll irgendwo und nicht in der entsprechenden Tonne entsorgt (Kabinettsmitglied Franziska Giffey hat sich diesbezüglich just über die Berliner aufgeregt). Und es passt auch zu einer Gesellschaft, in der immer häufiger ein Messer gezückt wird. Nicht, um damit sein Essen in mundgerechte Stücke zu schneiden, sondern, um es einem Mitbürger in den Körper zu rammen.

Kästners Fabian wollte von der Freiheit befreit werden. Das war um 1930. Nur zur Erinnerung.


Martin Busch arbeitet seit über 20 Jahren als Redakteur und Moderator für die Hörfunkprogramme von Radio Bremen. Nach seinem Soziologie-, Politik- und Linguistik-Studium an der Universität Hamburg (Schwerpunkt Markensoziologie) promovierte er im Fach Kommunikationswissenschaften. Er ist Autor der Streitschrift “Deutschland, Deutschland ohne alles – warum Europas größte Wirtschaftsmacht ein sozialer Pflegefall ist“.

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