Akademische Stichwortgeber und Aktivisten wollen die Erinnerung an den Holocaust zugunsten der Erinnerung an Kolonialverbrechen zurückstellen. Diese Gewichtsverschiebung steht in einem größeren Zusammenhang.
Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2023 unterschied sich von den früheren Gedenktagen an diesem Tag. Auf den ersten Blick nur im Detail. Auf den zweiten fügt sich die Art und Weise, wie Regierungsvertreter und Journalisten den Akzent setzten, in ein sehr viel größeres Bild ein. Und das wiederum betrifft nicht nur die deutsche Gedenk- und Geschichtspolitik.
Den Holocaust-Gedenktag gibt es in Deutschland seit 1996, sein Datum leitet sich von dem Tag ab, an dem sowjetische Truppen 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Im Jahr 2005 erklärte die UN den Tag zum International Holocaust Remembrance Day. In Berlin gehört eine feierliche Parlamentssitzung zu dem Zeremoniell; seit einigen Jahren gedenken die Parlamentarier und ihre Gäste auch nichtjüdischer Opfergruppen, etwa der Sinti und Roma. Denn die Gedenkveranstaltung soll zwar in erster Linie an den Holocaust erinnern, in zweiter Linie gilt er aber allen NS-Opfern. Am 27. Januar 2023 stellten Bundestag und -regierung, wie der parlamentarische Staatssekretär und Queer-Beauftragte Sven Lehmann schrieb, „die queeren Opfer in den Mittelpunkt“.
Heute gedenkt der #Bundestag der Opfer der Nazi-Diktatur. Und stellt erstmals die queeren Opfer in den Mittelpunkt.
Dieses wichtige Zeichen beendet eine schmerzhafte Ignoranz von erlittenem Leid und holt die Verfolgung von LSBTIQ* ins kollektive Gedächtnis.
Gegen eine spezielle Erinnerung an schwule NS-Opfer an diesem Tag wäre wie gesagt nichts einzuwenden. Allerdings stehen sie in dem Tweet des Staatssekretärs und auch in seiner längeren Erklärung auf der Webseite des Bundesfamilienministeriums eben nicht im Zentrum, was ja voraussetzen würde, dass noch etwas anderes vorkommt. Es handelt sich um die einzige Opfergruppe, die er überhaupt nennt. Auch in der offiziellen Verlautbarung von Familienministerin Lisa Paus, der Diskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman, einem Tweet der grünen Bundestagsabgeordneten Marlene Schönberger und in einem Kommentar der Tagesthemen erwähnen diejenigen, die sich äußern, die Juden und Auschwitz überhaupt nicht. Nicht einmal der Form halber und ganz am Rand.
Auch Paus nennt „die Opfer des Nationalsozialismus“ nur allgemein, um dann festzustellen: „Das Leiden der Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität verfolgt und ermordet wurden, blieb viel zu lange ungesehen“, wobei sie die homosexuellen Opfer mit der Formel „geschlechtliche Identität“ verbindet, die zwar in das moderne Begriffsraster passt, aber nicht zur NS-Geschichte. In Lehmanns Erklärung heißt es: „Die Verfolgung homo- und bisexueller Männer und Frauen, insbesondere in der NS-Zeit, aber auch ihre Kontinuität in der Bundesrepublik und der DDR, sind nicht ausreichend erforscht. Zur Geschichte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen gibt es kaum Forschung. […] Mit Beschluss des Aktionsplans ‚Queer leben‘ hat die Bundesregierung Vorhaben vereinbart, um die Erinnerungskultur in diesem Bereich zu stärken.“
Seine Formulierung stammt aus dem genannten Aktionsplan von 2022. Und für die Feststellung, etwas sei nicht ausreichend erforscht, finden sich eigentlich immer Gründe. Anderseits gibt es schon sehr gründliche Forschungen zur Verfolgung schwuler Männer im Dritten Reich. Aus dieser Forschung ergibt sich aber auch, dass sich keine vergleichbare Verfolgung lesbischer Frauen nachweisen lässt. Für eine systematische Verfolgung von trans- und intergeschlechtlichen Menschen durch die Nationalsozialisten gibt es keine Belege. (Transgeschlechtlichkeit in dem Sinn, dass jemand sein biologisches Geschlecht an das andere angleichen lässt, existiert übrigens erst seit 1952: In dem Jahr ließ der Amerikaner George William Jorgensen in Dänemark operieren, und begann anschließend eine erfolgreiche Schauspiel- und Gesangskarriere unter dem Namen Christine Jorgensen.)
Lehmann streicht also nicht nur wie die anderen Aufgeführten das zentrale historische Ereignis der Shoa, an das dieser Tag erinnern soll, einfach aus. Er transponiert auch Gegenwartskategorien in die NS-Vergangenheit, in der sie entweder keine Rolle spielen, oder jedenfalls nichts zum Verständnis der nationalsozialistischen Diktatur beitragen. Die ARD-Journalistin Sarah Frühauf beklagt zwar in ihrem Tagesthemen-Kommentar, das Wissen vor allem Jüngerer um den Holocaust sei „bedrückend gering“. Einen Grund, die Shoa, Juden und Auschwitz wenigstens kurz zu streifen, sieht sie darin nicht. Frühauf spricht einmal von homosexuellen, einmal von „queeren Opfern“ als einziger explizit genannten Opfergruppe. Bei ihr fällt auch der bemerkenswerte Satz: „Die Art des Erinnerns verändert sich.“ Das zeigte der Gedenktag 2023 allerdings sehr deutlich.
Und diese Veränderung fügt sich, siehe oben, in ein wesentlich größeres Panorama. Zu ihrer Verteidigung wenden Paus, Lehmann und Ataman wahrscheinlich ein, die Geschichte des europäischen Judenmordes sei ja allgemein bekannt – was allerdings nichts zu Frühaufs durchaus zutreffendem Befund passt. Andere warnen womöglich vor einer Opferkonkurrenz. Aber um diesen Begriff geht es hier nicht. Sondern zunächst einmal um die historischen Proportionen. Sie sollen noch einmal kurz umrissen werden, bevor sich dieser Text damit befasst, wer eigentlich das Erinnern aus welchen Gründen verändern möchte.
Homosexuelle zählten ohne Zweifel zu den Feindbildern der Nationalsozialisten. Im Jahr 1935 verschärften sie den schon bestehenden Strafparagraphen 175. Insgesamt kamen zwischen 1933 und 1945 etwa 50.000 Männer wegen Homosexualität ins Gefängnis, etwa zehn- bis fünfzehntausend in Lager, wovon wiederum etwas mehr als jeder Zweite ermordet wurde oder an den Haftbedingungen starb. Aber ganz abgesehen von den Opferzahlen fand ihre Verfolgung nie mit der Systematik und Totalität statt wie die Ermordung der europäischen Juden. Es lässt sich kaum rekonstruieren, aus welchen Gründen manche, die wegen des Paragraphen 175 im Gefängnis saßen, nach der Haft entlassen und andere anschließend in Konzentrationslager verschleppt wurden, wahrscheinlich deshalb, weil dafür keine einheitlichen Gründe existierten.
Für Prominente des Dritten Reichs existierten erstaunliche Ausnahmen. Ernst Röhm konnte bis zum 30. Juni 1934 die SA führen, obwohl seine Homosexualität vor 1933 Stoff für etliche Zeitungsartikel und Karikaturen abgab. Hitler ließ Röhm auch nicht wegen dessen Sexualität ermorden, sondern, weil der SA-Führer mit seiner Idee, die SA zu einer Armee umzuwandeln, den Plänen des Diktators im Weg stand. Ein anderer SA-Führer, dessen Vorliebe für Männer als nicht sonderlich geheim galt, der Kaisersohn August Wilhelm von Preußen, genannt Auwi, blieb nicht nur von dem Massaker von 1934 verschont. Er stieg 1938 sogar zum Obergruppenführer auf, dem zweithöchsten SA-Rang. Nach der Ermordung Röhms und anderer SA-Oberer in Bad Wiessee 1934 schrieb der Intendant des Berliner Schauspielhauses Gustaf Gründgens einen Brief an seinen Gönner Hermann Göring; Gründgens bat darin mit einem nur leicht verklausulierten Hinweis auf seine allgemein bekannte Homosexualität, ihn von seinem Posten abzuberufen. Göring wies das zurück, im Jahr 1937 machte er den Schauspieler sogar zum Generalintendanten der preußischen Staatstheater.
Auf ihren sogenannten „Rosa Listen“ erfasste die Polizei im Dritten Reich etwa 100.000 Männer. Eine gelegentliche strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen fand wegen der unterschiedlichen Gesetzeslage zwar im angeschlossenen Österreich und im sogenannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren statt – aber nicht im Altreich. Diese Unsystematik, die von-Fall-zu-Fall-Entscheidungen, die Ausnahmen sprechen selbstverständlich nicht für die Milde der Nationalsozialisten gegenüber dieser Opfergruppe. Sondern dafür, dass die Verfolgung Homosexueller in der NS-Ideologie und besonders im Denken Hitlers keinen besonders wichtigen Platz einnahm.
Genau dadurch unterschied sie sich grundlegend von der Ausrottungspolitik gegen die europäischen Juden. Um sie zu verwirklichen, setzte Hitler einen riesigen Apparat in Gang, der dafür sorgte, dass Juden auch auf Kreta und in Amsterdam aus ihren Verstecken geholt wurden. Hier gab es weder Unsystematik noch Ausnahmen, sondern einen totalen Vernichtungswillen. Es verringert das Leiden keines einzigen schwulen NS-Opfers, wenn man feststellt: Die Verfolgung Homosexueller gehört zu den Fußnoten des Nationalsozialismus. Der mörderische Antisemitismus bildet dagegen den Haupttext. In Hitlers Denken nahm er den zentralen Platz ein.
Albert Speer notierte in seinem „Spandauer Tagebuch“ am 20. November 1952 seine Erinnerungen an eine Schlüsselszene, einen Spaziergang, den Hitler mit ihm im November 1942 auf dem verschneiten Obersalzberg unternimmt. Er habe Hitler in vielen Situationen erlebt, schreibt Speer: „Aber wenn ich eine einzige Szene schildern soll, wo […] seine vielen Gesichter zu wirklich einem wurden, denke ich an […] nichts anderes als einen Spaziergang im Schnee.“ Von der Front kamen enttäuschende Nachrichten, die Lage der 6. Armee in Stalingrad verschlechterte sich fast täglich. Hitler eröffnete das Gespräch oder vielmehr seinen Monolog mit den Sätzen: „Wie ich den Osten hasse. Schon der Schnee macht mich deprimiert“, um sich dann in eine lange Erregung über die Juden hineinzureden. Die Juden seien schuld an Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg, sie hätten ihm auch diesen Krieg aufgezwungen, den er nicht gewollt habe, sie hätten ihm seine besten Jahre geraubt. In dieser Suada stieß er auch den Satz heraus: „Die Juden haben mich in die Politik gebracht.“ Ein paar Absätze weiter notiert Speer: „Nie habe ich so deutlich wie in diesem Augenblick empfunden, wie unbedingt notwendig die Figur des Juden für Hitler war – Haßobjekt und Fluchtpunkt zugleich.“
Zu dieser Zeit, da selbst er einen Sieg für unwahrscheinlich hielt, rückte der Gedanke für ihn offenbar ganz in den Mittelpunkt, wenigstens noch sein Ausrottungsprojekt zu Ende zu bringen. Seinen erregten Vortrag beendet er mit dem Stakkato: „Wir werden ihrer habhaft werden! Jetzt wird abgerechnet! Sie sollen mich kennenlernen!“
Ohne eine Wahrnehmung der Shoa in ihren Proportionen gibt es keine sinnvolle Deutung Hitlers und seiner Ideologie. Aber was, wenn diese Wahrnehmung einer ganz anderen Geschichtsdeutung im Weg steht?
Im Februar 2022 verkündete die Schauspielerin Whoopi Goldberg im ABC Talk eine Deutung des Holocaust, mit der sie nicht allein steht. „Wenn ihr das machen wollt, dann last uns wahrhaftig sein”, so Goldberg, „weil es in dem Holocaust nicht um Rasse ging.“ („If you’re going to do this, then let’s be truthful about it because the Holocaust isn’t about race.“) Sondern „um zwei weiße Gruppen von Leuten“ („two White groups of people”). Wie gesagt, bei der Beschreibung des Holocaust als „white on white crime“ – und deshalb nicht rassistisch – handelt es sich um keine Spezialität Goldbergs, die sich übrigens den jüdisch klingenden Namen irgendwann zugelegt hatte – ihr tatsächlicher Name lautet Caryn Johnson. Schon 2016 berichtet die New York Times von der Ausbreitung der „mere white in white crime“-Formel im akademischen Betrieb am Beispiel des Oberlin College.
Warum ist einer einflussreichen Strömung diese Feststellung so wichtig? Nach der radikalen Lehre von Ibram X. Kendi, Robin DiAngelo („White Fragility“) und anderen kann es ontologisch keinen Rassismus gegen Weiße geben. Weiße bilden global das Täter-, Nichtweiße das Opferkollektiv. So, wie Nichtweiße nie Rassisten sind, können Weiße sich nie wirklich zu Nichtrassisten läutern. Für Kendi und andere beginnt der Rassismus folgerichtig schon dann, wenn ein Weißer – völlig unabhängig von dem, was er sonst denkt und tut – behauptet, er sei kein Rassist. Denn so verdrängt er seinen Rassismus nur. Damit erweitern die identitäts- und rassenpolitischen Denker dieser Ausrichtung das Gedankengebäude von Frantz Fanon, der schon 1961 in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ den gesamten Westen für genuin rassistisch erklärte.
Die Shoa passt gleich aus zwei Gründen nicht in diese neugeschriebene oder vielmehr erfundene Globalgeschichte. Die Tatsache, dass die europäischen Juden zu den Weißen zählten und zählen, widerspricht dem Dogma, Weiße könnten nie Opfer von Rassismus, sondern nur Täter sein. Außerdem gehören die Juden zum Westen, also zu der Entität, die Fanon für so rassistisch durchtränkt hält, dass sie am besten verschwinden soll. Nach der „Critical Race Theory“, zu deutsch: Kritische Rassentheorie, bilden Weiße nicht nur schlechthin das Kollektiv der Schuldigen. Der Begriff des Rassismus erfasst auch mehr oder weniger jeden Umgang von Weißen mit Nichtweißen, jede Benennung von Unterschieden, sogar die Unterschiede selbst, während er gleichzeitig Rassismus als exklusiv westlich-weißes Phänomen definiert.
Die Weltbeschreibung, die dieser Lehre entspringt, erzählt die Entwicklung des Westens folglich als Kriminalgeschichte. Ihre zentralen Begriffe lauten Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus. Dieser neu geschaffenen Erzählung steht die Shoa gleich aus einem doppelten Grund im Weg, denn die europäischen Juden lassen sich nun einmal weder entweißen noch entwestlichen. Wer die Identitätspolitik mit ihrem parareligiösen Gut-Böse-Schema durchsetzen will, muss zwangsläufig die Erinnerung an die Shoa beiseiteräumen. Oder sie zumindest – wegen der Monstrosität ihres Gegenstandes – zerkleinern und verformen.
An diesem Großprojekt arbeiten viele, und das durchaus mit Erfolg. Im Fernsehgeschäft gibt es die Praxis, eine Serienfigur, die nicht mehr gebraucht wird oder aus anderen Gründen ausscheiden soll, aus der Staffel herauszuschreiben, ihren Abgang also dramaturgisch plausibel zu machen. Genau das geschieht gerade mit der Shoa und mehr oder weniger mit den Juden: Akademische Stichwortgeber und politische Unterstützer schreiben sie Schritt für Schritt aus der Geschichte.
Den Anfang machte der australische Historiker A. Dirk Moses 2021 mit einem Aufsatz, in dem er das bisherige Holocaust-Gedenken in Deutschland als „deutschen Katechismus“ bezeichnete, was bei ihm zu der Schlussfolgerung führt: „Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.“ Diese Forderung erhebt er ausdrücklich zu einem bestimmten Zweck: Das Holocaust-Gedenken stünde der Erinnerung an die (deutschen und überhaupt westlichen) Kolonialverbrechen im Weg. Deshalb müsse es nicht ganz verschwinden, aber unbedingt eine andere Form annehmen. In Deutschland fanden Moses’ Thesen ein großes und teils begeistertes Echo. „Während sich das Holocaustgedenken fest etabliert hat“, schrieb Christian Staas in der Zeit, „ist das kolonialhistorische Gedächtnis voll weißer Flecke geblieben. Da wundert es kaum, dass die Rede von der Singularität und die Metapher vom Zivilisationsbruch den Unmut jener auf sich ziehen, die aus der Perspektive des globalen Südens auf die Weltgeschichte blicken.“ Mit der Formel, das sei eben die Perspektive des „globalen Südens“, versuchten die Documenta-Verantwortlichen bekanntlich auch, das antisemitische Propagandabild eines indonesischen Künstlerkollektivs zu verteidigen.
Zu den wichtigsten deutschen Unterstützern des Um- und Herausschreibens zählt der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer, der auch die „Forschungsstelle Hamburgs (post)koloniales Erbe“ leitet. Zusammen mit dem in Los Angeles lehrenden Anglisten Michael Rothberg verfasste er in der Zeit einen Aufsatz, in dem beide noch deutlicher als Moses aussprechen, was sie am Holocaust-Gedenken stört: „Es geht um nicht weniger als um die Abwehr einer Debatte über koloniale Verbrechen, und damit verbunden um die unkritische Rettung einer europäischen Moderne, die Sicherung einer weißen hegemonialen Position im Inneren und die dominierende Stellung des ‚Westens‘ nach außen.“ Hier befinden sich beide ganz in der Spur Frantz Fanons. Und es geht eben nicht nur um Theorie.
Während das Gewicht der Shoa tatsächlich schon schrumpft, kann die staunende Öffentlichkeit neuerdings auch verfolgen, wie die Kolonialschuld ständig anwächst, zuletzt durch den Versuch von Außenministerin Annalena Baerbock, mit der Rückgabe der Benin-Bronzen mehr oder weniger auch Nigeria nachträglich zum deutschen Kolonialreich zu addieren.
Zum systematischen Herausschreiben der Shoa aus der Erinnerungspolitik kommt übrigens noch eine zweite Umformung der Geschichte: Für das Dogma des ausschließlich weiß-europäischen Täterkollektivs als Träger alles Bösen muss selbstverständlich auch die Geschichte der muslimischen Sklavenhändler und -halter verschwinden, genauso wie die der innerafrikanischen Sklaverei.
Im vergangenen Jahr radikalisierte sich die Holocaust-Umdeutung noch einmal deutlich mit der Konferenz „Hijacking Memory“ im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“, finanziert aus dem Etat von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Ihre Organisatoren versuchten nichts weniger, als das Holocaust-Gedenken als „rechts“ einzufärben, in Deutschland das Verdammungswort schlechthin. „Wir haben beobachtet, dass rechte Akteure international, aber auch in Deutschland das Gedenken an den Holocaust vereinnahmen oder kapern, um nationalistische, xenophobe, rechtspopulistische Politik zu machen“, erklärte die Tagungsorganisatorin und Publizistin Emily Dische-Becker. Auf der Tagung konnte Tareq Baconi, Funktionär des „Palestinian Policy Network“ in seinem Vortrag Israel als „Kindermörder“ beschimpfen. Die Holocaust-Erinnerung verspottete er als „jüdisches Psychodrama“. Damit stieß er in der deutschen Hauptstadt nicht etwa auf Widerspruch, sondern, wie der polnische Historiker Jan Grabowski, der an der Tagung teilnahm, in einem Welt-Interview berichtete, auf einhellige Zustimmung. „Im Zentrum Berlins“, so Grabowski, „saßen 200 Vertreter der deutschen Intelligenzija – Intellektuelle, Studenten, Professoren, Journalisten – und applaudierten enthusiastisch, als […] die Holocaust-Debatte als ‚jüdisches Psychodrama‘ bezeichnet wurde.“
Als weiterer kleiner Baustein fügt sich eine Entscheidung aus dem Haus Claudia Roths ins große Bild ein: In dieser Woche löste sie innerhalb der Abteilung K 52 das Referat „Antisemitismus- und Extremismusbekämpfung“ auf. Stattdessen entsteht ein neues Referat mit dem Titel „Kultur und Erinnerung in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft“.
Diese Einwanderungsgesellschaft bringt es auch mit sich, dass Lehrer, wie sie meist anonym berichten, in Klassen mit vielen muslimischen Schülern das Thema Holocaust oft gar nicht mehr behandeln – weil sie im Klassenzimmer sofort wütenden Widerspruch ernten. Entweder halten ihnen Schüler vor, es handle sich um eine Erfindung. Oder sie verlangen, dem Holocaustgedenken müsste dann aber die Nakba, die Vertreibung von Palästinensern nach dem gescheiterten Vernichtungskrieg gegen Israel von 1948 als mindestens gleichwertig gegenübergestellt werden. Die meisten Jugendlichen dürften von Moses und Zimmerer noch nie gehört haben. Aber sie exekutieren in den Schulen exakt das, was die akademischen Stichwortgeber umfangreich begründen.
In dieses Bild fügt sich auch ein, dass identitätspolitsche Linke Israel neuerdings als „kolonialrassistisches Projekt“ einordnen, und es damit kurzerhand dem weiß-europäischen Schuldzusammenhang zuschlagen. Nach dieser Logik handelt es sich bei Demonstranten, die in Deutschland und anderswo mit der Parole „From the River to the sea, Palestine will be free“ die Beseitigung Israels fordern, nicht mehr um Antisemiten, sondern um Vorkämpfer des Antikolonialismus, um die authentische Stimme des „globalen Südens“. Die Vernichtung des einzigen jüdischen Staates wäre dann nicht mehr die Vollendung des Holocaust, sondern ein Höhepunkt des antikolonialen Kampfes.
Schwule Opfer des Nationalsozialismus gehören zwar auch zum weißen Westen. Aber ihre Verfolgung geschah nicht aus rassischen Gründen. Wenn Sven Lehmann und andere dann auch noch von „queeren Opfern“ sprechen, außerdem von einer systematischen NS-Verfolgung von Intersexuellen und Transgender, die bisher kein Historiker entdecken konnte, ergibt sich noch ein erheblicher Bedeutungsgewinn für ihre politische Agenda. Vor allem formt aber schon eine Nicht- oder randständige Erwähnung des nationalsozialistischen Judenmordes die Geschichtsschreibung Stück für Stück um. Aus Fußnoten ergibt sich ein neuer Haupttext. Der Haupttext soll zur Fußnote herabsinken.
Natürlich handelt es sich bei dem neuen Text nicht um Geschichtsschreibung. Sondern um eine Politik mit dem Ziel, dem Westen gewissermaßen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Diese Ideologie entsteht im Westen – wie bisher alle antiwestlichen Bewegungen. Diejenigen, die sich zu ihr bekennen, beweisen ihre Anschlussfähigkeit an ein riesiges Feld, das von antiwestlichen Akademikern an amerikanischen und europäischen Hochschulen bis zur Hamas und anderen islamischen Bewegungen reicht.
Ihr unausgesprochenes gemeinsames Motto findet sich schon bei George Orwell: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft.“
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