Man schreibt das Jahr 1900. Henri Emile Benoît Matisse übernimmt auf der Pariser
Weltausstellung die Dekorationsarbeiten. Er malt Girlanden und Rahmenverzierungen in dem prächtigen Grand Palais und ist am Ende so erschöpft, dass er sich bei seinen Eltern im nordfranzösischen Bohain erst mal wieder ausgiebig auskurieren muss.
An diesem Punkt in seinem Leben ist Matisse ohne Hoffnung und drauf und dran, die Malerei aufzugeben. Die Einnahmen aus dem Verkauf seiner Bilder und der Lohn seiner Frau, die in einem Modistengeschäft arbeitet, reichen nicht aus. Die Familie muss um ihre Existenz ringen, weshalb die beiden Söhne immer wieder zu den Großeltern ausquartiert werden. Die Schwere dieser Phase wird spürbar in dem dunklen Gemälde „Atelier unterm Dach“ (1905).
Fauvismus wird sie getauft. Die Fauves (zu Deutsch „wilde Bestien“), zu deren Kern Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck zählen, komponieren ihre Sujets flächenhaft statt in Tupfen und kontrastreich statt in Farbnuancen. Wie eine Wucht ist diese Malweise. Sie ist höchst expressiv und damit Vorläufer der Bilder von Brücke und Blauer Reiter, aber auch des Abstrakten Expressionismus eines Mark Rothko, Robert Motherwell oder Frank Stella.
Es geht darum, auf der Leinwand das eigene Leben grell und klar auf den Tisch zu legen. Oder wie Matisse in den „Notizen eines Malers“ schreibt: Die Hauptanliegen seien Expression, das heißt geistige Verarbeitung von Naturformen, Klarheit und Farbe. Auch sieht er in der Kunst immer den Ausdruck der Persönlichkeit ihres Schöpfers.
Übermacht des Vaters
Seine Künstlerpersönlichkeit hielt Matisse wegen der Übermacht des Vaters lange verborgen, ehe er sie hervorholte und auszuleben begann. Am 31. Dezember 1869 wird er in Le Cateau-Cambrésis in Nordfrankreich auf dem Hof der Großeltern geboren. Seine Eltern betreiben einen Lebensmittelladen mit Samen- und Farbengeschäft. Vom jungen Matisse wird erwartet, dass er dieses später einmal übernimmt. Doch es kommt anders, auch wegen der zarten Gesundheit des Jungen.
Zunächst studiert er Jura, geht dafür nach Paris und wird 1889 Anwaltsgehilfe in Saint-Quentin. Doch schon 1891 kehrt er nach Paris zurück, fest entschlossen, an der École des Beaux-Arts zu studieren. Allerdings scheitert er an der Aufnahmeprüfung. So immatrikuliert er sich an der Kunstgewerbeschule, wird aber im zweiten Anlauf im Jahr 1895 an der Kunstakademie genommen – als Schüler des symbolistischen Malers Gustave Moreau.
Matisse träumt „von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe“. Er ist der erste Vertreter der Moderne, der ein theoretisches Gerüst zu seiner Malerei verfasst. Darin plädiert er für Bildräume „ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände“ und für eine „Kunst, die für jeden Geistesarbeiter, für den Geschäftsmann so gut wie für den Literaten, ein Beruhigungsmittel ist. So etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physi- schen Anstrengungen erholen kann“.
Sich als Maler zurückgelehnt und den Erfolg seelenruhig abgewartet hat er aber nicht. Matisse war ein Suchender und vor allem ein Reisender. 1895 Bretagne (wegen der Impressionisten), 1898 London (wegen Turner), 1906 Biskra in Algerien (wegen der Kunst und Kultur des Orients). Matisse saugt die Einflüsse auf und destilliert daraus sei nen eigenen Sud aus kräftigen Farben, einer daumendicken, pechschwarzen Konturlinie und dynamischen Kompo sitionen durch – zum Beispiel – die gekippten Horizontlinien.
Den Keramiken entlehnt er die reine, flächig aufgetragene Farbe, die reduzierte Zeichnung und die arabesken hafte Linie. So wird das Ornament zu einem Alleinstellungsmerkmal in sei nem Werk und führt zu der Erkenntnis: Deko kann durchaus Tiefe besitzen. Mit Matisse lernt das Auge, wie es durch Muster zum Minimalismus gelangt.
Wenn man länger darüber nachsinnt, ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig: Die Araber nutzen Ornamente zur Darstellung der Welt, indem sie das Gesehene in Arabesken und andere Zierde übersetzen, sie transformieren oder genauer: reduzieren. Bäume, Blätter, Vögel werden zu sich windenden Symbolen. Somit ist die dekorative Malerei eine Vorläuferin der abstrakten Kunst, in der sich der Maler schrittweise von einem Gegenstand in Richtung Reduktion entfernt.
Falsch und fatal ist jedoch, dass im heutigen Sprachgebrauch, insbesondere in Deutschland, die Dekoration als minderwertig betrachtet wird. Zierrat, Schnörkel, Beiwerk – welchen Begriff man auch wählt, er scheint immer nur etwas Oberflächliches zu meinen und etwas allein aufzuhübschen. Wie Puder. Nicht wie Kunst.
Anlässlich des 150. Geburtstags von Henri Matisse, dem Maler mit Hang zum Dekorativen, könnte man diese Haltung überdenken und mit ihm lernen, genauer hinzusehen bei Teppichen, Trachten und Tapeten.
Einfach, aber nicht eintönig
An Matisse’ Bildern kann man ungeahnt lange verweilen. Sie sind flach, aber nicht leer. Sie sind einfach, aber nicht eintönig. Sie sind dekorativ, aber nicht falsch. In „Interieur mit Geigen kasten“ von 1918/19 – da ist Matisse bereits lange ein arrivierter Maler – ist die Horizontlinie schräg und die Welt dadurch in Bewegung.
Das dargestellte Zimmer mit seiner Tapete und den gemusterten Vorhängen wirkt wie ein Vorraum, den man überwinden muss, um nach draußen zum Licht zu gelangen. Vielleicht auf der Geige spielend, die links im Zimmer liegt?
Matisse’ schön anzusehende Bildräume sind auch psychologische Räume, Säle für die Seele. In seinem Spätwerk, als er ab 1941 ans Bett gefesselt war, entdeckte Matisse den Scherenschnitt. Diese späten Bilder sind noch klarer und noch radikaler. Mit ihnen schrieb sich Henri Matisse in die Kunstgeschichte ein, doch ohne seine Auseinandersetzung mit dem Ornament hätte er vielleicht nie zu ihnen gefunden.