Tichys Einblick
Lightkultur und Leitstruktur 

Die Europäer müssen retten, was noch zu retten ist 

Die Selbstauflösung des Westens schreitet voran. Europa wird nur fortbestehen, wenn sich die Europäer endlich auf die Bewahrung von Kernbeständen ihrer Kultur und ihrer Strukturen besinnen. Ein realistischer Konservatismus ist angesagt. Von Heinz Theisen        

Die Verleugnung des Eigenen zugunsten einer imaginierten One-World-Ideologie von der einen Menschheit ist eine spezifisch westliche Idee, die andere Kulturen nicht teilen, aber auszunutzen verstehen. Dieser Universalismus hat christliche und aufklärerische Wurzeln. Indem er die beiden Geistesbewegungen auch innewohnenden skeptischen Ansätze außer Acht lässt, konnte er sich – ungestört von dialektischen Einsprüchen – seinen Weg zur Macht bahnen. Die damit einhergehende Selbstauflösung des Westens bedauern Kulturrelativisten gar nicht, weil sie alle Kulturen für gleich wertvoll und gleich gültig erachten. 

Roger Scruton erkennt die tiefere Ursache des Globalismus im radikalisierten Individualismus, der sich jedweder anstrengenden Loyalität verweigert, der ihre vermeintliche Freiheit einschränken könnte. Sie definieren ihre Ziele und Ideale gegen andere Formen der Zugehörigkeit: gegen Familie, Nation, gegen alles, was von ihnen Loyalität einfordern könnte. Dafür unterstützen sie ferne internationale Organisationen, verfolgen im Namen universeller Werte politische Visionen, die keinerlei Bezug mehr zu der Zugehörigkeit zu ihren historischen Gemeinwesen haben. Dort suchen sie die Dreh- und Angelpunkte, von wo aus sie Fundamente der ererbten Gemeinschaft aushebeln können. 

Der Humanitarismus diente als Überbau des entgrenzten Finanzkapitals. Während der mit dem Werteuniversalismus einhergehende Humanitarismus eigene Prekarier in Bedrängnis bringt, hat seine materielle Variante im Handelsglobalismus gravierende Folgen für den ortsansässigen bürgerlichen Mittelstand. Für die Sorgen der „weißen“ Arbeiterklasse bleibt keine Aufmerksamkeit. Jede Kritik wird als Rechts und Böse aus dem Diskurs verdrängt. Die Moralisierung dient als „Methode der Exklusion“ (Andreas Rödder) des Andersdenkenden. 

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Wir leben – so Michel Houellebecq – in einem Zeitalter, dessen wichtigste Funktion die Zerstörung ist. In der Dekonstruktion seien Moderne und Postmoderne äußerst erfolgreich gewesen. In den neoliberalen Entgrenzungen hätten die geistigen Entgrenzungen ihre Fortsetzung gefunden. Das Chaos sei mittlerweile absolut und die Desorientierung flächendeckend. Dabei ist es kein Zufall, dass die postmoderne Dekonstruktion von Hochschulen ausging. George Orwell: „One has to belong to the intelligentsia to believe things like that: no ordinary man could be such a fool.“  

Die utopischen Überspanntheiten haben Gegenkräfte hervorgetrieben. Diese sind im Kern protektionistisch, aber nach denen gespalten, die den Nationalstaat und denjenigen, die eine europäisch-westliche Selbstbehauptung favorisieren. Es geht aber nicht um ein Entweder-oder, sondern um die angemessene Abgleichung der Handlungsebenen. Antieuropäisch sind nur die so genannten „Völkischen“, was angesichts der multikulturellen Realitäten reine Nostalgie bedeutet. Das Volk ist zudem selten einig und muss durch Gewaltenteilung eingehegt und kontrolliert werden. Es ist ein Konstrukt, welches immer neu zu definieren ist, am leichtesten – wie im Vier-Völkerstaat der Schweiz – durch das gemeinsame Schutzbedürfnis gegen die sie umgebenden Großmächte. 

Was übrig geblieben ist: Light-Kultur und Leitstruktur 

Dürfen wir noch auf eine Rückkehr zu abendländischen Werten oder auch nur zur aufgeklärten Moderne hoffen? Die Niedergangsphänomene der Spätmoderne lassen wohl nur noch dies zu: ein Retten, was zu retten ist. Dieser Konservatismus wäre vor allem ein Realismus, der sich vor falschen Idealisierungen der Vergangenheit scheut – wie sie etwa im konservativen Familienbild anklingen. Vor dem 19. Jahrhundert hatte nur eine Minderheit Geld für eine Familiengründung und oft gab es mehr uneheliche als eheliche Kinder. Allein die blanke Not hielt die Haushalte zusammen. 

Europas Lightkultur wäre eine skeptische Variante der einstigen Leitkultur. Sie akzeptiert die empirische kulturelle Vielfalt. Sie will gar nicht mehr andere Kulturen integrieren oder dominieren, sondern wäre schon zufrieden, wenn die jeweils eigene Kultur noch gelebt werden kann. Die Voraussetzung der kulturellen Vielfalt ist die Einheit der gesetzlichen und institutionellen Leitstruktur. Die Antike dient hier als Vorbild, weil in der römischen Lightkultur Toleranz in Glaubensangelegenheiten mit konsequenter Verfechtung des Römischen Rechts verbunden war. 

Bewahrenswert sind insbesondere die Leitstrukturen des Sozialstaats und des Rechtsstaats. Von der Demokratie sind immerhin Reste an Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative verblieben. Meinungsfreiheit kann immer noch jeder in Anspruch nehmen, der unkündbar ist und keinen Wert auf das eigene Fortkommen legt. 

Historische Reden
"Auch der Mensch hat eine Natur"
Eine Rückkehr zu den alten Großideologien wäre eine verderbliche Form von Nostalgie. Ob Sozialismus oder Neoliberalismus – solche Einseitigkeiten stehen neuen Einsichten nur im Wege. Im neuen Großkonflikt zwischen Globalismus und Protektionismus lautet die Antwort weder Kapitalismus noch Sozialismus, sondern eine besser geschützte und umgrenzte Marktwirtschaft, weder Profanität noch Fundamentalismus, sondern ein säkulares Kulturchristentum, weder Weltoffenheit noch Separatismus, sondern ein Europa, das schützt.  

Realismus meint vor allem Einsicht in das Notwendige und das noch Mögliche, wobei diese oft erst dann einsetzt, wenn sie mit spürbaren Schmerzen einhergeht. An Nöten fehlt es dem weltoffenen und ungeschützten Europa nicht. Selbst kulturrelativistische und globalistisch gesonnene Franzosen mögen es nicht, wenn ihre Kirchen abgefackelt werden und ganze Stadtteile nicht mehr von der Polizei betretbar sind. Im noch naiv gehaltenen Deutschland werden diese Einsichten mit den Problemen wachsen. 

Weder Kapitalismus noch Sozialismus, sondern umgrenzte Marktwirtschaft  

Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier hält in seinem Buch über einen „Sozialen Kapitalismus“ den postmodernen Auflösungstendenzen ein vehementes Plädoyer entgegen. Die identitären Ideologien des Feminismus, Antirassismus und Multikulturalismus hält er für anti-solidarisch, weil sie nur die Interessen bestimmter Identitätsgruppen oder Klassen vertreten, die auf Kosten der Rechte anderer durchgesetzt werden sollen. 

Ebenfalls anti-solidarisch sei das neoliberale Menschenbild des Homo Oeconomicus, das jegliche Verantwortung des Menschen gegenüber dem Gemeinwohl negiere. Die Durchsetzung dieses Menschenbildes sei mit zunehmender Aggressivität, wachsendem Egoismus und sinkendem Vertrauen verbunden. Anti-solidarisch seien auch postmoderne Ideologien, die Hedonismus und sexuelle Befreiung an die Stelle von stabilen Bindungen und generationenübergreifendem Denken stellen. Die von diesen Ideologien zunehmend geprägte Politik habe in westlichen Gesellschaften das „Gefühl gemeinsamer Zugehörigkeit aktiv untergraben“ und den Zerfall der reziproken Verpflichtungen beschleunigt, von denen unser Wohlergehen abhängt. Diese Ideologien hätten die Bürger aktiv dazu ermuntert, antagonistische Identitäten auszubilden. 

Jenseits von Globalismus und Nationalismus
Europa und der Westen brauchen eine neue Politik
Wo es an Bindungen und an kultureller Homogenität mangele, entstehe nicht Gleichheit, sondern die Verlagerung der Suche nach Gemeinschaft, von der nationalen Ebene zu Opfergruppen oder ethnischen Subkulturen. Der entfesselte Global-Liberalismus entspräche nicht der Natur des Menschen. Die Loyalität mit „der Menschheit“ schwächt die Loyalität mit dem Nächsten, deren Vernachlässigung sich in Radikalisierung und Verwahrlosung niederschlägt. Die Tatsache, dass man gegenüber Fremden größere Solidarität zeige als gegenüber den Armen im eigenen Land habe das Vertrauen sozial schwacher Gruppen in die Eliten untergraben und Zweifel an der Legitimität ihrer Herrschaft verstärkt. Die Eliten reagierten darauf mit Verachtung und verstärken damit die Bruchlinien weiter.

Bindungen und eine relative kulturelle Homogenität seien – so Paul Collier – Voraussetzungen gewesen, dass sich in westlichen Gesellschaften liberale politische Ordnungen herausbilden konnten. Die Nahbeziehungen seien Voraussetzungen solidarischer und freiheitlicher Gesellschaften. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Identität, Zugehörigkeit und Heimat sei Teil der Natur des Menschen. Die Orientierung am Gemeinwohl beruhe auf der Wahrnehmung von Menschen, Teil einer Gemeinschaft zu sein, deren Mitglieder einander verpflichtet sind. Narrative, die die eigene Gemeinschaft definieren, seien über lange Zeiträume gewachsen und müssten gepflegt werden. Der Nationalstaat stelle die zweckmäßigste Einheit der meisten politischen Ordnungen dar, weshalb nationale Identität zu schützende Werte darstellen. 

Die Europäer hätten all diese Gedanken schon in ihrer christlichen Soziallehre vorfinden können. Man muss nicht gleich das Naturrecht bemühen, aber eine realistischere Orientierung an menschlichen Bedürfnissen nach einer umgrenzten Gesellschaftsordnung würde Globalisten zu erden helfen. Es geht in den Krisen Europas nicht um Revolution, sondern um eine Renovatio des Bewährten und Notwendigen.  

Weder Profanität noch Fundamentalismus, sondern kulturchristliche Säkularität  

Der Verlust Gottes ist in politisierende Ersatzreligionen umgeschlagen, in denen nicht mehr nach richtig und falsch, sondern nach Gut und Böse unterschieden wird. Sie drohen damit Religion und realistische Politik in ihrer Eigenlogik zugleich aufzulösen. Die Einheit von Religion und Politik ist der Kern des Totalitarismus.  

Der Verlust jeder Metaphysik profaniert die Physik der täglichen politischen Konflikte, er macht Konservative zu Wutbürgern, die sich gegen Auflösung empören, ohne untereinander eine neue regulative Idee zu besitzen von dem, was höher ist als sie selbst. Profanität wird strukturell durch die Laizität vorangetrieben. Die laizistische Ideologie beruht auf einer pauschalen Ablehnung von Religion und unterscheidet nicht zwischen dem Christentum, welches die kulturelle Grundlage Europas darstellt und Religionen, die im Konflikt mit dieser Ordnung stehen. Der Laizismus untergräbt die kulturellen Grundlagen Europas.

Mehr als ein Jahrtausend lang war – so David Engels – nicht die Laizität, sondern das Christentum die Leitkultur Europas. Nach der Französischen Revolution konnte ein laizistisches Frankreich nur so lange Bestand haben, wie seine gesellschaftliche Tradition und seine Weltsicht weiterhin auf christlichen Wurzeln beruhten. Ab dem Moment aber, wo dieses implizite Fundament brüchig wurde und dann fast ganz verschwand, löste sich die französische Gesellschaft in Materialismus, Hedonismus, Nihilismus und Egoismus auf.  

Das wichtigste kulturelle und strukturelle Merkmal Europas ist Säkularität und die daraus hervorgehende Trennung nach ideellen und materiellen Kräften. Der Verlust der spannungsreichen Ergänzungen zwischen „Ora et Labora“, Kirche und Staat, ideellen Kräften der Kultur und materiellen Kräften der Zivilisation sperrt die ethischen Kräfte der Religion aus und bedroht den dialektischen Kern Europas. 

Falsche Freunde
Rettet die EU vor ihren schlimmsten Freunden und Ursula von der Leyen
Doch noch ist die Säkularität nicht verloren. Die Werte, die mit Judentum und Christentum über Jahrhunderte hinweg unsere Kultur bereichert haben, verschwinden nicht einfach. Freiheit, Gleichheit und Solidarität haben sich in der bürgerlichen Gesellschaft und der Sozialen Markwirtschaft ausgeprägt. Die Zehn Gebote wirken auch fort, wenn man nicht an Gott glaubt. Selbst der Liberalismus hat einen Ursprung in den frühchristlichen Debatten: Was ist ein Individuum, was ist Freiheit? 

Die säkulare Trennung von Kirche und Staat dient der Machtteilung und war Grundlage weiterer Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Wirtschaft und Wissenschaft. Papst Benedikt XVI. sieht daher die Zukunft des Christentums in einer neuen „Entweltlichung“ liegen, über die es wieder zu sich finden könne – und umgekehrt, so ist hinzuzufügen, Politik wieder an Realitätssinn gewinnen könnte. 

Ohne Bezug zur 2000-jährigen christlichen Geschichte wäre Europa jedenfalls nicht mehr Europa. Ob man gläubig ist oder nicht: Ein gebildeter Mensch weiß um die Bedeutung des Christentums für Europa. Viele Agnostiker empfehlen pragmatischerweise uns einfach, so zu leben, als ob es Gott gäbe. 

Zwei von fünf Menschen in der Schweiz gehen nach wie vor davon aus, dass es einen persönlichen Gott gibt. 25 Prozent glauben an eine wie immer geartete „höhere Macht“. Die Hälfte der Bevölkerung glaubt, dass es eine höhere Macht irgendwie unser Schicksal beeinflusst. Fast ebenso viele glauben an ein Leben nach dem Tod. Solche Positionen müssen nicht unbedingt christlich konnotiert sein. Die Werte, mit denen Judentum und Christentum unsere Welt bereichert haben, verschwinden nicht einfach. Vielleicht werden sie Europa überleben. Auch Nichtchristen sollten daher soziale Beziehungen und Strukturen pflegen, als ob das Christentum unsere gemeinsame Wurzel sei. 

Leitstrukturen eines Europas, das schützt    

Das Erkennen von Gefahren und die Reaktion darauf fallen seit jeher in den Kompetenzbereich der Politik, die dafür Grenzen ziehen und verteidigen muss. Europa muss heute vor allem wieder ein Verhältnis zu seinen Grenzen finden. Alle Länder in Ostasien, die sich zu Beginn der Seuche nach außen begrenzt und nach innen konsequent durchgegriffen haben, stehen heute besser da. Lockdowns für Hotspots, Grenzkontrollen und Einschränkungen der Mobilität helfen umso besser, je früher sie verhängt werden. 

Das Mittelmaß kann nicht führen, sondern nur reagieren. Ihren Offenbarungseid legt es im Impfstoffdebakel ab. Der Biontech-Impfstoff wurde in Deutschland erfunden und mit 375 Millionen Steuergeldern gefördert. Dennoch liegt Deutschland beim Impfen weit hinter Ländern wie Israel, USA oder Großbritannien zurück. Der ideologische Hintergrund hinter dem Versagen liegt in der Abweisung der bei Gesundheit eigentlich gegebenen nationalstaatlichen Zuständigkeit, die von Eiferern rechtzeitig als „Impfnationalismus“ diskreditiert worden war.  

Beschaffung und „gerechte“ Verteilung wurde an die EU-Kommission delegiert. Diese bestellte zu spät und zu wenig, auch um deutschen Impfstoff nicht einseitig zu favorisieren. Die Verteilung verläuft nicht im Modus marktwirtschaftlicher, sondern planwirtschaftlicher Mangelverwaltung. Nach dem Grenz- und Maskendebakel handelt es sich schon das dritte Versagen der Union allein in der Corona-Pandemie. Wie bei der Migration zeigt die Union, dass sie nicht nur globalen Krise nicht bewältigen kann, sondern ein Teil von ihnen ist. 

Die Europäer unterließen es noch bis ins Frühjahr 2020 hinein, Reisende aus China in Quarantäne zu schicken. Mit solchen punktuellen Einschränkungen wäre es gelungen, die allgemeine Aussetzung der Reisefreiheit zu verhindern. Schnelle spezifische Maßnahmen hätten die allgemeinen Restriktionen begrenzt. 

Mittelmäßige können mangels Vision und Gefahrenbewusstsein auch nicht vorsorgen. Sicherheit erfordert aber Prävention, z.B. den Aufbau von medizinischem Schutzmaterial. Selbst die schlechteste medizinische und soziale Infra-Struktur des Nationalstaates ist immer noch besser als die irreführenden Einschätzungen der WHO und einer handlungsunfähigen Europäischen Union.  

Eine zunächst verständliche Rückkehr zum Brexit-Nationalismus vertieft das Problem. Sie trägt statt zur Renovation zur weiteren Dekonstruktion der eigenen Interessen bei. Wer internationalen Handel treiben will, muss internationale Regeln mit aufstellen können. Souveränität bedeutet nicht nur die Regeln im Heimatmarkt zu beeinflussen, sondern auch in den Märkten, aus denen man kauft und in die man verkauft. So gesehen führte der Brexit zwar auf dem Papier zu einem Gewinn von Souveränität, aber faktisch zu einem Verlust. In der Impf- und Gesundheitspolitik hätten die Briten auch innerhalb der EU ihren Weg gehen können. Vertragsuntreu waren die „Internationalisten“. 

Ein abendländischer Konservatismus sollte weniger an der relativ jungen europäischen Erfindung des Nationalstaates als an der Bewahrung der in zwei Jahrtausenden gewachsenen europäischen Kultur ausgerichtet sein. Deren gemeinsame Elemente wie Christentums und Aufklärung sind wiederum in sich selbst vielfältig. Die Einheit in dieser Vielfalt fände sich statt in Zwangsangleichung im organisierten Schutz dieser Vielfalt. 

Die Konkurrenz der am Modell nationalstaatlicher Einheit orientierten EU zu den Nationalstaaten ist selbstzerstörerisch. Ein Europa der variablen Geometrie bedeutet dagegen etwa eine stärkere Integration in der Euro-Zone, die um eine schmale Fiskal- und Bankenunion ergänzt wird und eine lockere Anbindung der anderen Staaten, die sich nur auf Binnenmarkt und Zollunion beschränkt. In nur sektoralen Verbindungen würden sich jeweils Gruppen von Mitgliedsstaaten bilden, die als Koalitionen handlungsfähig sind.  

Dem BverfG sei Dank
Europa, das sind wir! Der absolutistische Machtanspruch von EuGH, EU-Kommission und EZB
Zu einer Romantisierung europäischer Werte besteht angesichts der unablässigen innereuropäischen Kriege Europas kein Anlass. Ein europäisches Bürgertum entsteht nicht durch Übergriffe in die Grundwerte anderer Völker. Die Brüsseler Eliten sollten Ungarn und Polen, zumal nicht ihre neuen queeren Werte aufzudrängen versuchen, sondern sich auf die Rolle des Schutzes vor äußeren Gefahren beschränken.

Bürger kommt von Burg. Eine konföderierte Europäische Union wäre durch Abgrenzung und Schutz vor anderen Imperien rekonstruierbar. Gegen die großen Imperien der Welt haben die kleinen Nationalstaaten Europas keine Behauptungschance. Während diese Union nach innen die Vielfalt der Nationalstaaten respektiert, sollte sie nach außen gemeinsam abwehrbereit sein. 

Ein in diesem Sinne imperiales Europa wäre nicht eine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zu den Nationalstaaten. Ein Europa, das schützt, würde sich auf handlungs- und kooperationsfähige Nationalstaaten stützen. In wirtschaftlichen Fragen gilt es dementsprechend ein Mindestmaß an Autarkie, ob bei Masken und Medikamenten oder in strategischen Schlüsselindustrien, sicherzustellen.

Spätmoderne Besinnungen durch die Corona-Pandemie? 

Die großen Wenden Europas kamen nach den Katastrophen, so etwa die Renaissance nach dem Zeitalter der Pest. Nach dem Dreißigjährigen Religionskrieg von 1618 bis 1648 waren die Verstrickungen von Religion und Politik so diskreditiert, dass säkulare Strukturen aufgebaut wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang der Übergang vom ersatzreligiösen Nationalismus zum Binnenmarkt und nach 1990 der Übergang von der kommunistischen Heilslehre zu offeneren Gesellschaften. 

Vielleicht ist die vergleichsweise milde Katastrophe der Corona-Pandemie eine Gelegenheit zu einem Paradigmenwandel, in dem die Europäische Union wieder ein Verhältnis zu ihren Grenzen, ihre Bürger zur Mobilität und der Nationalstaat zu einer sinnvollen Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechten von Daten- und Gesundheitsschutz findet. 

Sicherheit braucht Prävention, der Abbau der Masken Vorräte und der Intensivbetten zeigt die ganze Erbärmlichkeit des neoliberal- betriebswirtschaftlichen Denkens. Und selbst die schlechteste medizinische und soziale Infra-Struktur des Nationalstaates ist immer noch besser als die irreführenden Einschätzungen der WHO und die Handlungsunfähigkeit der EU.  

Auch der radikale Individualismus erweist sich im Krankheitsfall als Illusion. Jeder Kranke braucht Pflege und jeder Mensch Aufmerksamkeit und Zuwendung. Der große Mensch sieht, wie ihn das kleinste Virus zu Fall bringen kann, wie das globale Räderwerk der Wirtschaft aufgehalten wird, wie unsere Reisepläne dahin gehen. Die globalistische Entgrenzung hatte dem Virus den Weg um die Welt geebnet, so dass nur noch Grenzen im Alltag als letzte Brandmauer verblieben.  

Der Ausblick derzeit ist düster: Sollten sich die Lockdown-Therapien als schlimmer als die Krankheit erweisen, Wirtschaft und Euro-Währung zu Fall bringen und der Impf-Internationalismus noch zahllose vermeidbare Todesopfer kosten, hätte die Europäische Union Selbstmord aus Angst vor dem Tod und dem Nationalstaat begangen. Entweder wird der Niedergang Europas im Untergang oder in einer Rekultivierung und Restrukturierung münden.  


Prof. Dr. Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Veröffentlichungen unter anderem: „Der Westen und die neue Weltordnung“, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2017; „Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation“, Olzog edition, Reinbek 2015

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