Viele Jahre hatte Heidi Klums Casting-Serie „Germany’s Next Topmodel“ klare Vorgaben für die Teilnehmerinnen: Wer zu klein war, ein gewisses Alter überschritten oder zu viel auf den Hüften hatte, oder nach den klassischen Idealen als unattraktiv galt, bekam leider kein Foto. In dem diesjährigen Konzept der Sendung sind alle Klischees aufgehoben.
Liebe Heidi, deutsches Supermodel, Ersatz-Mama von Hunderten Nachwuchs-Models – wir müssen reden. Ich schaue Deine Show „Germany’s Next Topmodel“ nun schon eine ganze Weile. Als Teenie war ich sogar ein richtiger Fan: Ich habe mich nach den Tipps geschminkt, die die Make-up-Artists aus der Sendung an den Mädels vorgemacht haben und ich habe vor dem Spiegel verschiedene Lauf-Stile variiert und geübt, so wie es Deine Catwalk-Trainer erklärt haben. Sicher habe ich auch zwei oder drei der Schmink- und Schmuckutensilien gekauft, die Ihr den Kandidatinnen in die Hand gedrückt habt, damit sie diese Produkte „ganz nebenbei“ vor der Kamera verwenden. Ich war voll auf dem Model-Trip und habe keine GNTM-Folge verpasst.
Doch dann hast Du angefangen, Deine Show zu verändern. Früher gab es bei Dir klare Regeln, wer durch die Castings in die Sendungen kam und wer nicht. Ich erinnere mich noch an Staffeln, in denen Hunderte Mädchen vor Deiner Nase und die Deiner Co-Hosts über einen riesigen Laufsteg gestakst sind und Du einer nach der anderen mit geschürzten Lippen und Deiner typischen nasalen Stimme verklickert hast, dass sie zu klein, zu voluminös, zu unsportlich, zu alternativ oder eben nicht zum Modeln geeignet sei.
Manchmal haben sich auch ein paar Kerls einen Spaß erlaubt und sich in Kleider mit tiefen Ausschnitten geworfen, aus denen die dunklen Haare nur so hervorgesprossen sind. Wenn diese Jungs dann vor Dir über den Laufsteg gelaufen sind, fandest Du das gar nicht lustig und hast leicht pikiert gepiepst und darauf verwiesen, dass bei der Sendung ausschließlich Frauen mitmachen dürfen.
Aber irgendwann – ich glaube es war in etwa zu der Zeit, in der sich die Zeitungen mit Artikeln erst linker, dann identitätspolitischer Autoren zu Deiner Sendung füllten, damit, Du würdest falsche und gesundheitsgefährdende Schönheitsideale propagieren, wärest nicht divers genug, nicht genug dies, nicht genug jenes etc., etc. – wurde plötzlich alles anders. Ob nun wegen Corona oder wegen der ausufernden Kosten von Castings in zig Städten: Die ersten Sendungen des großen Schaulaufens entfielen, dem Zuschauer wurden die bereits vorab selektierten Kandidatinnen nur noch vorgestellt. Aha.
In dieser neuen Zeitrechnung habe ich mal gänzlich unvorbereitet in neue Folgen reingezappt – und plötzlich ging es gar nicht mehr so sehr um Schminke, Handtaschen-müssen-lebendig-sein und Zickenkrieg, sondern darum, dass eine junge Transfrau mit den Nerven völlig am Ende ist, weil gleich das Bikini-Shooting stattfindet und ihre geschlechtsangleichende OP noch nicht stattgefunden hatte. So saß also die junge Transfrau aufgelöst unter Palmenmotiv auf den Bahamas und wurde von zehn Mädels mit Tipps wie „das kann man sicher irgendwie abbinden“ getröstet. Natürlich hat die Kamera die ganze Zeit ungerührt und ungeniert voll draufgehalten, und es wurden ungefähr dreißig Kurzinterviews mit den Teilnehmerinnen darüber geführt, wie sie denn nun zu dem Bikini-Shooting-mit-Penis-Problem stehen.
Eingedenk dieser vergangenen Staffel war ich nun entsprechend gewappnet, als ich die aktuelle GNTM-Staffel eingeschaltet habe. Nun, das dachte ich zumindest. Plötzlich starrte mich da eine Person mit pinker Vokuhila-Frisur, einem Nasenpiercing, Hipster-Brille und mit Model-untypischem kleinem Überbiss an, die sich gerade damit vorstellte, dass sie einmal so lange alleine durch die Nacht geradelt sei, bis sie Halluzinationen bekommen hätte.
Kaum war das verarbeitet, wurde bereits die nächste Teilnehmerin eingeblendet – von Kopf bis Fuß tätowiert, Piercing über der Lippe und auf der Zunge, mit üppiger Figur. Ausführlich hast Du sie über ihre Depressionen und ihre Gewichtszunahme in Folge einer Therapie sprechen lassen – ich habe mich gefühlt, als wäre ich unfreiwillig in eine Selbsthilfegruppe geplatzt. Dieses Konzept kannte ich tatsächlich so bisher nur vom RTL-Dschungelcamp.
Das Highlight der Show sind in dieser Staffel aber eindeutig zwei andere Teilnehmerinnen: Lieselotte und Barbara. Die beiden sind sage und schreibe 66 und 68 Jahre alt. Auch hier versucht GNTM von Nord nach Süd und von 12 bis 75 möglichst viele Zuschauerinnen mitzunehmen – auch in der Modebranche wird der Markt für Models reiferer Semester mit jedem Jahr weiter ausgebaut. Aber Heidi, im Ernst und unter uns: Willst Du da nicht einfach viel zu viel in eine einzige Staffel quetschen?
Du bist ja immerhin inzwischen auch fast 50, als Model ist das sicher hart. Aber komm: sich jetzt Models im Oma-Alter einzuladen, nur damit Du daneben frischer aussiehst – das ist doch unter der Gürtellinie. Findest Du nicht?
Lieselotte ist schon beim ersten Mal in der Maske den Tränen nah, weil es in der DDR damals nur zwei Lippenstiftfarben gegeben hätte. Kurze Zeit später steht das Catwalk-Training auf dem Plan und sie zwitschert in die Kamera: „Ich habe heute Lust, bei Heidi einen sexy Gang zu lernen.“ Aber als sie dann in weniger fließenden Bewegungen über den Laufsteg geht, knallst Du ihr nur unverhohlen vor den Latz, dass sie viel zu steif in der Hüfte sei. Hallo? Die Frau ist 66 – klar ist sie da steifer in der Hüfte als die Konkurrentinnen Mitte 20! Und Du verordnest ihr Hoola-Hoop-Training – wenn das nicht zynisch ist, weiß ich es auch nicht.
Bei Kontrahentin Barbara ist es kaum besser – als ein junges Mädel ihr im jugendlichen Slang verklickern will, dass sie es heute zusammen auf dem Laufsteg „rasieren“ werden, guckt Barbara verständnislos. Die jüngere der beiden braucht einen Moment, schaltet dann aber und sagt in lieber Schülerinnen-Stimme: „Entschuldigen Sie bitte, ich meinte: ‚Wir machen das heute!‘“.
Doch das sind noch nicht alle Model-Oldies, beziehungsweise „Best-Ager“, wie Heidi sagen würde. Die 50-jährige Martina, die zusammen mit ihrer Tochter teilnimmt, hat es bis ins Finale geschafft. Ihr größtes „Problem“: Ihre Tochter ist auch dabei. Schon zu Anfang der Staffel hat die spindeldürre Frau mit frecher Kurzhaarfrisur und harten Gesichtszügen sich nicht viel Mühe gegeben zu verbergen, dass sie sich für das bessere Model hält. Vor der Kamera erklärte sie, dass sie als junge Frau bereits ein erfolgreiches Model gewesen sei – sich dann aber (vielleicht wegen ihrer Tochter?) für eine andere Laufbahn entschieden habe. Mit GNTM wolle die Mama sich jetzt endlich den Model-Traum erfüllen. Martina betont: Die Bewerbung hat sie VOR ihrer Tochter eingereicht.
Heidi, jetzt mal Tacheles: Brechen deine Einschaltquoten wirklich so sehr ein, ist der Druck des deutschen Feuilletons so groß, dass Staffel um Staffel das Konzept immer weiter geschliffen werden muss? Dass miteinander in Konkurrenz gestellt wird, wer in diesem Business gar nicht in Konkurrenz zueinander steht? Wenn jemand Andreja Pejic buchen will, dann weil der eher androgyne Typ gesucht wird. Wenn es Rubens-Style sein soll, dann sucht der Kunde nicht Martina, sondern ruft gleich Beth Ditto an.
Oder soll es darum gehen, ab sofort alle miteinander in Konkurrenz zu bringen? Da steige nicht nur ich aus.
Vor Kurzem hast du angekündigt, dass schon bald Deine 18-jährige Tochter Leni die Staffel weiterführen wird. Vielleicht hast Du ja deshalb ein Mutter-Tochter-Duo bis ins Finale kommen lassen. Jetzt ist nur die Frage: Kannst Du der Versuchung widerstehen, die „Best-Ager“-Mutter gegen ihre Tochter gewinnen zu lassen?