Gestatten, mein Name ist … ach neh, besser nicht. Sehr riskant heutzutage. Aber von meiner Vergangenheit kann ich erzählen wie Udo Lindenberg, der damals sang: „Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, ganz spitz auf Lakritz …“
Lakritz gab es früher im Milchladen Jankord. Als Schüler nannten wir die Inhaberin „Oma Jankord“, obwohl sie vielleicht noch gar keine Oma war. Ihr Laden befand sich in Lüdinghausen, einem Ort im Westfälischen bei Münster, den nur kennt, wer sich für historische Wasserburgen und Gespenstersagen wie die Kälber ohne Kopf von der Burg Kakesbeck interessiert. Der kleine Junge von damals lernte in Lüdinghausen auf dem Gymnasium Canisianum (benannt nach dem heiligen Canisius, der die Reformation in Deutschland zurückdrängte), sang im Schulchor vor allem das Requiem von Mozart, weil das zu einem offiziellen Termin aufgeführt werden musste. Die Tenöre waren angesichts des ausstehenden Stimmbruchs der Chor-Schüler Pädagogen, die weiter hinten im Chorgestühl saßen, so dass sie niemand sehen konnte.
Der kleine Junge dachte nicht an Diktatur und ungleiche Schweine, als er mit der Schultasche und dem Orwell-Büchlein darin vorbei an dem alten Internatsgebäude Schloss Westerholt das Schulgelände verließ. Vor ihm lag das „Hotel Zur Post“. Imposant erscheinende Herren standen vor der Tür: Der Hotelbesitzer und zwei Kellner – alle im schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Fliege – wie die „Blues Brothers“. Im Hotel pflegten Mittel- und Oberstufenstufenschüler nach der Schule eine Cola oder Fanta zu trinken – an Tischen, die heute noch dort stehen. Manchmal hält Schulgeschichte verdammt lange durch.
Der kleine Junge lief an den Dreien vorbei. Sie sollten seinen Zehn-Mark-Schein nicht für Cola bekommen, die im Hotel Zur Post auch noch zehn Pfennig teurer pro Glas war als im Gasthof Richter an der alten Wassermühle, die so unheimlich war, dass die Schüler immer fürchteten, die Kälber ohne Kopf kämen gleich aus dem tosenden Wasser des Flusses Stever hoch und würden ihnen den Weg abschneiden.
Der kleine Junge lief weiter, am Notariat Richter vorbei, zur Hauptstelle der Sparkasse Coesfeld, die heute Sparkasse Westmünsterland heißt. Mit den zehn Mark in der von der Oma geschenkten Börse wäre er der König im Milchladen gewesen; im Hotel hätten die Herren in den schwarzen Anzügen ihm wenigstens etwas mehr Beachtung geschenkt als den stets pleiten Mittelstufenschülern, die zu oft anschreiben lassen mussten. In der Sparkasse, dem Haus des Geldes, empfing den Jungen die kalte Atmosphäre der Geschäftswelt. Wer hier verkehrte, wusste nichts von englischen Fabeln, sondern war vertraut mit der Welt des Geldes, der Börsen und der Wertpapiere. Irgendwann erbarmte sich ein Herr im dunklen Anzug des Jungen mit seinen zehn Mark, fragte, was er wolle: „Ein Konto eröffnen“.
Etwas später war im „Business Insider“ von einer Kreditfinanzierung dieser Sparkasse Westmünsterland zu lesen. Ein früherer Verwaltungsrat des Instituts, der Bundestagsabgeordnete Jens Spahn von der CDU aus dem sechs Bahnstationen entfernten Ahaus, der heute Gesundheitsminister im Berliner Bundeskabinett ist, habe zusammen mit seinem Ehemann von der Sparkasse Westmünsterland nach Informationen des „Business Insider“ einen Kredit für eine Villa in einem Prominenten-Viertel in der Hauptstadt Berlin erhalten. Berlin liegt weit weg vom Geschäftsgebiet der Sparkasse. Der einstmals kleine Junge hätte für die Realisierung seines Traums vom Haus am Meer nicht einmal ein Zehntel dieser Summe benötigt – er hatte sogar seine Silbermünzen als Sicherheit angeboten. Vom Regionalprinzip gebe es Ausnahmen, hieß es in dem Bericht. Für den Jungen gab es die nicht.
Nach Einbruch der Dämmerung zieht schnell Dunkelheit über das Münsterland. Es ist dieser einzigartige Moment, wo die Kälber ohne Kopf aus der Burg Kakesbeck ihren abendlichen Tanz in der von Nebeln verhüllten Parklandschaft zu beginnen scheinen und Annette von Droste Hülshoff mit heiserer Stimme den „Knaben im Moor“ zu rezitieren beginnen scheint: „O schaurig ist‘s über‘s Moor zu gehen, wenn das Röhricht knistert im Hauche.“ Der Junge von damals sitzt immer noch im Hotel Zur Post am Tisch von damals und studiert die aus der alten Schultasche hervorgeholte „Farm der Tiere“. Jetzt – Jahrzehnte später – hat er George Orwell verstanden.