Tichys Einblick
„Bicycle-Gate“

TV-Rituale: Was wirklich wichtig ist

Katrin Göring-Eckardt sprach von einem „schwarzen Tag für alle anständigen Deutschen“. Sie warnte vor einem „Bicycle-Gate“ mit unabsehbaren Konsequenzen. Vor dem Weißen Haus war ein altes schwarzes Herren-Fahrrad der Marke „Bismarck“ umgefallen.

Screenshot ARD

Die Nachricht schlug bei den deutschen Medien ein wie eine Bombe: In Washington war ein Fahrrad umgefallen. Umgehend berichtete ARD-Korrespondentin Ina Ruck in einer Live-Schaltung direkt von ihrem außerordentlich authentisch wirkenden Stammplatz vor dem Weißen Haus über das dramatische Geschehen. Nach ersten Erkenntnissen handele es sich bei dem Objekt um ein altes schwarzes Herren-Fahrrad der deutschen Marke „Bismarck“, das der heutige Besitzer von seinem deutschstämmigen Großvater geerbt habe. Ein terroristischer Hintergrund sei eher unwahrscheinlich. Man müsse davon ausgehen, dass der Umsturz einzig auf die Gesetze der Schwerkraft zurückzuführen sei.

„Alles alternativlos“

Kurz darauf trat in Berlin die Bundeskanzlerin vor die Presse und sprach sich für eine Versachlichung der „kontrovers und teilweise erbittert geführten öffentlichen Diskussion“ aus. Es sei alternativlos, jetzt Schadensbegrenzung zu betreiben. Die Bundesregierung werde alles tun, um zu einer partnerschaftlichen und zielorientierten Übereinkunft zu gelangen. Angela Merkel schloss mit den Worten: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Gemeinsam werden wir es schaffen.“

„Auf Augenhöhe“

Im Anschluss bezog der deutsche Außenminister in einer separat einberufenen Pressekonferenz Stellung. Zunächst verwahrte er sich ausdrücklich gegen überzogene Dramatisierungen der Medien. So habe eine Boulevardzeitung mit der Schlagzeile „Umsturz in Washington“ den Bogen der Realitäten deutlich überspannt. Steinmeier weiter: „Es ist jetzt nicht die Zeit für gegenseitige Schuldzuweisungen und Spekulationen, sondern für eine bilaterale, solidarische Problemlösung auf Augenhöhe“.

„Schwarzer Tag“

Im Namen der „Grünen“ sprach Katrin Göring-Eckardt in ihrem fast alltäglichen Polit-Statement für die ARD von einem „schwarzen Tag für alle anständigen Deutschen“. Sie warnte vor einem „Bicycle-Gate“ mit unabsehbaren Konsequenzen. Das Fahrrad stehe als zeitloses Symbol für verkehrspolitische Korrektheit, alternative Lebensart und multikulturelle Überzeugung. Wer sich „diesseits oder jenseits des Atlantiks“ an diesem Symbol vergreife, müsse mit dem entschlossenen Widerstand der „Grünen“ rechnen.

„Ziemlich zynisch“

Da Sahra Wagenknecht wegen eines wichtigen Friseurtermins verhindert war, durfte für „Die Linke“ ein Mann namens Riexinger vor die ARD-Kamera treten. Der eingeblendete Untertitel wies ihn zur Überraschung der Zuschauer als Parteivorsitzenden aus. Mehr als beschämend und zynisch sei, dass es sich bei dem umgefallenen Fahrrad um ein deutsches Fabrikat aus einer prädemokratischen Epoche handele. Der Name „Bismarck“ stehe heute nicht nur für Heringe, sondern auch für mit eiserner Hand erfolgte Unterdrückung der Werktätigen im Kaiserreich. Zur Verhinderung weiterer derartiger Skandale sei ein gesetzliches Exportverbot für alle Waren überfällig, deren Namensgebung das deutsche Ansehen im Ausland durch unerwünschte Assoziationen beeinträchtigen könne.

„Voll konsequent“

Hinter den Kulissen erfolgte Versuche von FDP und AfD, sich ebenfalls mit 1:30-Statements politisch in Erinnerung zu bringen, scheiterten jedoch am Abwehr- Argument der „Tagesschau“-Redaktion, dass sich übergreifende Ausgewogenheit naturgemäß auf die im Bundestag vertretenen Parteien beschränken müsse. Wie immer zu Wort kam dagegen der Präsident des Europäischen Parlaments, der das aktuelle Geschehen zunächst in einen gesamteuropäischen Zusammenhang stellte.

In diesem Sinne kündigte Martin Schulz eine alsbaldige EU-Gesetzesinitiative an, die die schnellstmögliche Nachrüstung aller im Markt befindlichen Fahrräder mit ISO-zertifizierten, seitlich montierten Stützrädern vorschreiben werde. Als Termin für die gesetzgeberische Umsetzung in den 28 Mitgliedsstaaten sei der 1. Januar 2035 vorgesehen. Dieses konsequente Vorgehen zeige erneut eindrucksvoll die Entscheidungsfähigkeit, Bürgernähe und Schlagkraft der europäischen Institutionen bei der supranationalen Wahrnehmung von Verantwortung für künftige Generationen.

„Systembedingt“

Zur akademischen Abrundung kam in der „Tagesschau“ ein bislang eher unbekannter Politikwissenschaftler zu Wort, der – mit Blick auf den Zwischenfall in Washington – vor „disruptiven Interdependenzen, empathischen Konfliktsteigerungspotenzialen und ökosozialen Politinklusionen“ warnte, die die deutsch-amerikanischen Beziehungen tendenziell und nachhaltig belasten könnten. Generell seien Fahrräder systembedingt als gefahrgeneigt einzustufen. Der aufrechte Betrieb setze ein gewisses Mindesttempo voraus. Der Professor weiter: „Bei Stillstand wächst die Gefahr eines Umsturzes.“

„Postfaktisch“

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Zwischenfalls und seiner Kommentierungen entschied die ARD kurzfristig, alle hier zitierten Statements in einem „Tagesschau-Extra“ dem erstaunten Publikum nochmals in voller Länge zu Gehör zu bringen. Gerade in populistisch aufgeheizten, postfaktischen Zeiten komme es – so ein Sprecher – mehr denn je auf sachliche, objektive und umfassende TV-Berichterstattung an, um dem von interessierter Seite inszenierten Trend zur Dramatisierung und Skandalisierung von Nachrichten entgegenzuwirken. Dabei setze man nicht auf ritualisierte Abläufe und Formate, sondern auf flexible Ausrichtung an den tatsächlichen Wünschen und Interessen der Fernsehzuschauer.

Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus sammelte vor dem Studium Bankerfahrung und ommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Geldanlage.

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