Es gibt Dinge, die sind wirklich wichtig. Und es gibt Dinge, die nur wichtig wirken.
Lassen Sie uns, lieber Leser, für drei kurze Sätze zu einem unserer Nachbarn blicken. Belgien bekommt eine neue Regierung. Das ist wichtig – jedenfalls für die Belgier. Neuer Ministerpräsident wird Bart De Wever. Er ist Parteivorsitzender der rechten, migrationskritischen flämischen Nationalisten und hat erfolgreich eine Koalition mit den Liberalen, den Christdemokraten und den Sozialdemokraten gebastelt.
Derweil haben die Abgeordneten im Deutschen Bundestag so getan, als ginge es dort gerade um das Überleben der westlichen Zivilisation. Zwar spreizte sich buchstäblich jeder Redner wie ein Pfau. Doch was dem Publikum als deutsche Schicksalsfrage verkauft wurde (und in den kommenden Tagen weiter verkauft werden wird), war in Wahrheit nur ein als Parlamentsdebatte verkleideter innerparteilicher Machtkampf der Union – unter tatkräftiger Einmischung der politischen Konkurrenz.
Das wirkte wichtig, war es aber nicht.
Folgenlose Fensterreden
Der Gesetzentwurf zur Migration, den Friedrich Merz mit so lautem Getöse durchbringen wollte, war von Anfang an das Papier nicht wert, auf das er geschrieben wurde. Denn selbst wenn der CDU-Chef im Bundestag dafür eine knappe Mehrheit bekommen hätte, hätte danach noch der Bundesrat über das Gesetz befinden müssen. Dort war – lustig ist die Parteipolitik – eine Mehrheit noch nicht einmal entfernt in Sicht, weil die CDU-internen Merz-Gegner unter den Ministerpräsidenten ihrem eigenen Kanzlerkandidaten keinen Erfolg gönnen wollten.
Und selbst wenn – wie durch ein Wunder – das Gesetz auch den Bundesrat überlebt hätte: Dass die rot-grüne Rest-Regierung mit Olaf Scholz, Nancy Faeser und Annalena Baerbock neue, strikte Migrationsregeln tatsächlich umgesetzt hätte, war völlig ausgeschlossen.
Das wusste jeder, auch Friedrich Merz.
Trotzdem haben alle – Medien, Merz, Mützenich – aus unterschiedlichen Motiven dabei mitgemacht, das Ganze zu einer Art Endkampf zwischen den universalen Mächten des Lichts und der Finsternis hochzujazzen, wobei die Rollen je nach Perspektive und Interesse mit wechselnden Darstellern besetzt wurden.
Immerhin brachte die bizarr überschätzte Wahlkampfveranstaltung auf Steuerzahlerkosten ein paar erhellende Einsichten. Diese lassen sich allerdings nur mit einer erheblichen Dosis Sarkasmus ertragen.
CDU gegen CDU
Vor der Abstimmung ließen der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, vorsorglich und übereinstimmend mitteilen, dass ihre beiden Bundesländer im Bundesrat keinem Gesetz zustimmen würden, das im Bundestag mit den Stimmen der AfD verabschiedet wurde. Falls man bis dahin noch nicht gewusst hatte, dass Wüst und Wegner zwar auch in der CDU, dort aber Hardcore-Feinde von Friedrich Merz sind, dann wusste man es spätestens jetzt.
Interessant ist, dass beide sichtlich kein Problem damit haben, ein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland (den Bundesrat) für ihre parteiinternen Ränkespielchen zu missbrauchen. Interessant ist auch, dass beide offenbar so sehr von Altkanzlerin Angela Merkel ferngesteuert werden, dass sie mitten im Wahlkampf ihrem eigenen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten offen in den Rücken fallen.
Da deutet sich ein gewisser Klärungsbedarf im Konrad-Adenauer-Haus an.
Das gilt auch für Roderich Kiesewetter. Der Scharfmacher im Ukraine-Krieg hat sich durch so harsche Forderungen zur Unterstützung Kiews hervorgetan, dass man im Prinzip nur darauf wartete, wann er zum ukrainischen Verteidigungsminister ernannt wird. In parteiinternen Schlachten, wenn er selbst beteiligt ist, erscheint der Mann nicht mehr ganz so tapfer: Statt sich bei der Abstimmung im Bundestag für oder gegen seinen Kanzlerkandidaten Merz zu bekennen, blieb Kiesewetter einfach weg.
Weg – nämlich aus der CDU – ist jetzt auch Michel Friedman: aus Protest dagegen, dass die AfD für den Merz-Antrag gestimmt hat. Das ist zum einen aussagenlogisch eine durchaus beachtliche Volte. Zum anderen ist es ein kleines bisschen enttäuschend: Immerhin hatte die Partei Friedman selbst dann nicht verstoßen, als herauskam, dass er Koks-Partys mit Edelnutten in Luxushotels feierte. Da hielt man zu ihm und half bei der Resozialisierung. Dafür verstößt Friedman jetzt die CDU. Undank ist der Welt Lohn.
Feigheit vor dem Freund
Viel Dankbarkeit hat auch die FDP nicht zu erwarten. Erst hatte ihr Großer Vorsitzender Christian Lindner angekündigt, für den Merz-Gesetzentwurf stimmen zu wollen. Das war aber offenbar in der Fraktion nicht so richtig abgesprochen gewesen. Es gab Widerstand.
Um zu verhindern, dass Lindner am Ende in kurzen Hosen dasteht, versuchte der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr zu retten, was nicht mehr zu retten war – und wollte die Abstimmung verschieben. Das ging bekanntlich gründlich schief. Am Ende stimmten zwei Liberale mit „Nein“, fünf enthielten sich, und 16 drückten sich à la CDU-Kiesewetter. Die FDP-Fraktion ist also geschlossen unentschlossen.
Und Christian Lindner steht nun eben doch in kurzen Hosen da.
Den größten Bock der Debatte überließ der Liberale trotzdem der Außenministerin Annalena Baerbock. Die Grüne sagte: „Sie wollen gar nicht wissen, wie viele Nachrichten ich in den letzten 48 Stunden bekommen habe. Denn Europa schaut auf Deutschland.“ Tatsächlich wüsste man aber doch ganz gerne, wer genau sich da bei Baerbock gemeldet hat. Denn außer verängstigten grünen EU-Abgeordneten kann man sich ja kaum jemanden vorstellen.
Neben den Belgiern haben die Niederlande schon länger genauso eine rechte Regierung wie Italien und Ungarn. Auch in Schweden und Finnland regieren rechte Parteien, ebenso in der Slowakei und Kroatien. In Frankreich könnte die rechte Politikerin Marine Le Pen Staatspräsidentin werden, Österreich bekommt gerade einen rechten Kanzler.
Wer also soll bei Baerbock angerufen haben?
Bei so viel gequirltem Quark fiel es Sahra Wagenknecht leicht, die Plenarsitzung mit markigen Worten zu entlarven: „Die meisten Menschen im Land haben kein Verständnis für diese alberne Debatte“, sagte die BSW-Chefin zu der Diskussion um die „Brandmauer“. Der Protest gegen die CDU/CSU sei eine „heuchlerische und verlogene Inszenierung“. Die AfD sei auch wegen der Fehler der Ampel-Koalition so stark geworden.
Tatsächlich hat die Ehefrau von Oskar Lafontaine damit einen wirklich spannenden Punkt erwischt. Und ihre völlig zutreffende Analyse des künstlich aufgepumpten Dramas im Bundestag war nicht nur inhaltlich, sondern auch formal interessant: Wagenknecht sagte das nämlich in einem TV-Interview schon einen Tag, bevor die Debatte im Parlament überhaupt stattfand.
Wir lernen: Es passiert halt nichts Neues mehr unter der Sonne.
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