Freiheit. Ausgerechnet diesen Titel hat Angela Merkel für ihre Memoiren ausgewählt. Für 700 Seiten, in denen sie je 35 Jahre vor und nach dem Mauerfall Revue passieren lassen will. Dass Memoiren einen Kontrapunkt zur offiziellen Geschichtsschreibung setzen können, ist keine Neuheit. Dass diese allerdings so konträr zur Wahrnehmung stehen – schon.
Freiheit ist ein definierter Begriff. Der „Grimm“ hat ihm zu Popularität verholfen. In der letzten D-Mark-Reihe der Bundesrepublik, auf dem die Brüder abgebildet waren, stand der Beginn des Eintrags „Freiheit“ auf dem Schein. Zehn verschiedene Bedeutungen kennt das Deutsche Wörterbuch. Jacob Grimm starb wenig später beim Eintrag für „Frucht“.
Angela Merkel, die sich um die deutsche Sprache so verdient gemacht hat wie kaum eine andere politische Persönlichkeit der deutschen Geschichte, fügt nun ihre eigene Definition hinzu. Auch das ist nicht neu. Ihre Kanzlerschaft war eine Dauerfolge von Neudefinition und Neologismen. Die Sprache der Ära Merkel hätte ein eigenes Lexikon verdient. Es wäre ein Buch, über das vielleicht beide Grimms gestorben wären.
Der Verlag von Merkel zitiert Merkel mit den Worten:
„Was ist für mich Freiheit? Diese Frage beschäftigt mich mein ganzes Leben. Natürlich politisch, denn Freiheit braucht demokratische Bedingungen, ohne Demokratie gibt es keine Freiheit, keinen Rechtsstaat, keine Wahrung der Menschenrechte. Die Frage beschäftigt mich aber auch noch auf einer anderen Ebene. Freiheit – das ist für mich, herauszufinden, wo meine eigenen Grenzen liegen, und an meine eigenen Grenzen zu gehen.“
Wer sich in den Scholz-Jahren nach Merkel zurücksehnen sollte, dürfte spätestens jetzt seine Sehnsucht bereuen. In den Worten liegt mehr, als man wissen wollte. Bleiben wir beim Offensichtlichen. Merkel geht es nicht um Freiheit an sich, sondern um das, was sie daraus macht, was sie für Freiheit hält. Es ist eine privatsprachliche Erklärung. Es ist der Eintritt in eine infantilisierte Sprachwelt, die dem jüngeren Deutschland zum Verhängnis geworden ist. Ein Putsch ist nicht mehr ein Putsch, sondern was man dafür hält; das gilt für Geheimtreffen, das gilt für „Demokratieförderung“; das gilt für die Vorteile der Massenzuwanderung und Gefahren von Tsunamis am Ende der Welt. Auf diese Weise kann Freiheit auch mal Sklaverei sein, wenn man sich denn danach fühlt.
Doch es ist eine andere Stelle, die nicht nur DDR-Bürgern einen Schauer über den Rücken jagen will. Es ist eben nicht die Freiheit, aus der die Demokratie hervorgeht. Freiheit könne nur aus demokratischen Bedingungen hervorgehen – wie der Rechtsstaat. Das ist anhand historischer Belege zwar innerhalb von zwei Wikipedia-Artikeln zu entkräften – denn Freiheit und Rechtsstaat hat es auch ohne Demokratie gegeben –, aber es passt in ein etatistisch-systemisches Verständnis, in dem eine selbst definierte Demokratie als Ursprung von Bürgertugenden gilt, und nicht etwa andersherum.
Freiheit wurde erkämpft, gegeben oder garantiert, aber nur in den seltensten Fällen von der Demokratie – vielmehr war die Errichtung eines demokratischen Systems häufig der Schlusspunkt, um diese Rechte zu bewahren. Die Erklärung der Menschenrechte steht vor der Errichtung des demokratischen Staates, das gilt für die USA wie für Frankreich und sogar Deutschland selbst. Aber eine solche Denkweise deckt sich ganz mit der Vermutung, dass der Merkelstaat nie ein Staat der Freiheit war, sondern einer, der Freiheiten nach Gutdünken gibt und die Vogelfreiheit mit ebenso strafender Hand verteilt.
Der Leser ist demnach gespannt, welche Freiheit Merkel in ihrem Buch beschreibt. Vielleicht meint sie die auffälligen, persönlichen Freiheiten in der DDR? Die Freiheit beim Festzurren der EU-Verträge in der Euro-Krise? Die grenzenlose Freiheit in Zeiten der Migrationskrise? Die Freiheit in Lockdown-Zeiten? Die Meinungs- und Gedankenfreiheit im Korsett der Konformität, das ihre Kanzlerschaft prägt?
Womöglich wäre es zu boshaft, davon zu sprechen, dass Merkel wie eine Blinde über die Farben philosophierte. Für die Blinden. Denn die schreiben zumindest keine Bücher darüber.