Gute Nachrichten für die Demokratie: Der Ostrakismos ist zurück! Eine Forderung, die der Autor dieser Zeilen schon häufiger aufgestellt hat. Die beste Lösung wäre natürlich: Scherbengericht für alle. Dann wäre endlich wieder Ruhe im Karton. Rechtsradikale Naturromantiker wie türkische Linksjournalisten könnten der menschenfreien Zone Deutschland etwas abgewinnen.
Vielleicht ist das der Preis, den wir zahlen müssen, um den jeweiligen enervierenden ideologischen Gegenpart loszuwerden. Das Scherbengericht ist bekanntlich die humanste Version der gegenseitigen Vernichtung. Denn auf die Frage, wie man eines Tages noch einmal miteinander zusammenleben möchte, kommt sowieso niemand mehr. Ist auch zu anstrengend. Scherben statt Konzessionen. So hält es auch der Bundeskanzler mit den Bauern. Auch Claudia Roth hätte mit Sicherheit am Konzept „Ton, Steine, Scherben“ ihre blanke Freude.
Neuerlich: Der Autor ist ein bekennender Freund des Ostrakismos. Eine Demokratie, in der man nicht per Votum den mächtigsten Politiker aus dem Land fegen kann, das ist keine echte Demokratie. In einem Land mit Ostrakismos kann niemand Kanzler für 16 Jahre sein. Einer muss jedes Jahr gehen. Ostrakismos ist kein „Wünsch-dir-was“, sondern eine Pflicht. Und sie hat schon Themistokles, den berühmten Sieger über Xerxes bei Salamis, das Fürchten gelehrt. Bedenke, Habeck, dass du sterblich bist? Von wegen! Eine ordentliche Verbannung von zehn Jahren hat Politiker deutlich mehr das Fürchten gelehrt als abgestellte Höflinge, die in windigen Kommentarspalten ihren Herrscher etwas bekritteln.
Leider bleibt es im besten Deutschland aller Zeiten – wie so häufig – bei einer Farce. Der Pseudo-Ostrakismos kommt als Petition daher. Björn Höcke, das thüringische Gesicht der zur Deportationspartei hochgeschriebenen AfD, soll – tja – für vogelfrei erklärt werden. Das ist schon verwunderlich. Da redet man so viel über Menschenrechte, über Vernichtungsfantasien und Minderheitenschutz, will aber im selben Atemzug einem AfD-Landeschef die Grundrechte streitig machen. Initiiert hat die Aktion das linke Bündnis Campact.
Der Spiegel berichtet: Bereits 930.000 hätten die Petition unterzeichnet. Das kratzt an der Million. Zahlen sind seit der letzten Woche sowieso wundersam. Nur popelige 8.000 Protestler gestern bei der Demo gegen die Regierung, aber 25.000 „gegen Rechts“. In Essen hätte sich gar eine Spontandemo von fast 7.000 Menschen gebildet, gegen die AfD. Überall sprießen regierungsfreundliche Demonstrationen aus dem Nichts. Montagsdemonstrationen, aber diesmal andersrum. Irgendwo vergießt Erich eine Träne, die auf einem heißen Stalagmit sofort verdampft.
Regierungen, die zum Protest gegen den Protest aufrufen, das ist schon etwas Besonderes. Das alles natürlich mit dem Hinweis auf Weimar, wie es der Kanzler und der Wirtschaftsminister nun in zwei Videobotschaften getan haben. Das zum Scheitern Weimars auch die Weltwirtschaftskrise dazugehörte, scheint man irgendwie vergessen zu haben. Vielleicht, weil die jetzige Wirtschaftskrise von der eigenen Regierung (und Vorgängerregierung) verursacht wurde. Das könnte zu unangenehmen Rückschlüssen führen. Etwa, dass die derzeitige Missstimmung im Land nicht auf bösartige Einflüsterer und geschürte Wut zurückzuführen ist, sondern auf das Scheitern einer jahrzehntealten Regierungslinie.
Um die Bevölkerung nicht zu irritieren, muss ein Sündenbock her. Wir hören sehr viel von der Verrohung der Sprache und des Diskurses, wie die etablierte Presse und Politik lehren. Daher darf ein Kurt Krömer Höcke ein zu klein geratenes Genital unterstellen und die FDP-Vertreterin von Ruhrmetall dessen Partei mit etwas vergleichen, was Bauern nur von ihren Kuhweiden kennen. An dem Diskurs der besten Bundesrepublik aller Zeiten überzeugt vor allem dessen Kultiviertheit im Gegensatz zum Mob.
Die Parallelen zu den Bauernkriegen sollen an dieser Stelle nicht zum ersten Mal auftauchen. In die Zeit der Bauernkriege fällt auch die beginnende kleine Eiszeit. Heute nennen wir es Klima. Medien und jene, die es sein wollen, geben sich besonders intellektuell, doch im Grunde richten sich alle ihre Texte darauf: Ohne AfD wäre das Leben wieder schön. Das magische Denken kehrt zurück: Alles wird wieder gut, wenn die Hexe Höcke verbrannt worden ist. Oder deportiert. Oder entrechtet.
Wie man es dreht: Dasselbe Milieu, das sich so entsetzt gibt über das Treffen einiger Personen in einer Potsdamer Villa, weil dort „Deportationen“ beschlossen worden seien – der Akademiker wirft ein: seit wann wurde auf irgendeiner Tagung mal etwas beschlossen? – , zeigen denselben Vernichtungswillen gegenüber dem politischen Gegner und seinem Anhang. Der banale Gedanke, dass man mit den Menschen irgendwie arbeiten muss – frei nach Adenauer: denn es gibt keine anderen! – geht in der eigenen Missionarsarbeit unter. Man wirft „dem Anderen“ Entgrenzung vor und betreibt sie selbst.
Das Narrativnetz ist dichtgespannt. Das beginnt beim Treffen in der Gruselvilla, wo gerade einmal vier Personen aus AfD-Kreisen anwesend waren, aber das zum AfD-Treffen stilisiert wird. Wo man hauptsächlich über „Remigration“ gesprochen habe, obwohl es nur ein Punkt auf einem tagesfüllenden Programm gewesen ist. Wo angeblich darüber gesprochen wurde, dass auch deutsche Staatsbürger ausgewiesen werden sollten, obwohl es dafür keinen Beleg gibt – und selbst wenn, genau dieses ja noch vor nicht allzu langer Zeit von der Bundesregierung selbst überlegt worden ist im Falle von Hamas-Sympathisanten. Und dennoch, was hängen bleibt: die Deportation.
Der Umkehrschluss bedeutet: Höcke deportieren. Um das Schlimmste zu verhindern. Einen Schönheitsfehler gibt es jedoch: Beim Ostrakismos gab es keine Aussprache. Irgendwer schrieb den Namen von irgendwem auf irgendeine Scheibe. Die Person, die am häufigsten auftauchte, musste gehen. Also keine Petitionen. Kein Campact. Kein Aufmarsch gegen Rechts. Keine Genitalien und Haufen. Das birgt das mulmige Gefühl: Bei einem anonymen Scherbengericht besteht die sehr große Wahrscheinlichkeit, dass Höcke nicht der meistgenannte Name sein könnte, dürften die Deutschen abstimmen.
Und das macht die Politik wirklich nervös. Deshalb braucht es vielleicht bald nicht nur 25.000 Leute beim Regierungsaufmarsch, sondern eher 250.000. Oder 2,5 Millionen. Eben das, was die Berliner Polizei liefern kann. Und was die nicht kann, können die Linksextremen, die sich schon unter Lina E. dazu berufen fühlten, mit edlem Motiv gegen den Rechtsextremismus (oder den, den sie dafür halten) vorzugehen. Rosige Zeiten für Deutschland. Wenn das schon das beste Deutschland aller Zeiten ist, dann will man irgendwie gar nicht erst wissen, wie das zweitbeste ausschaut.