Tichys Einblick
Achtung, Glosse

Deutschland nach 360-Grad-Wenden

„Wir Deutschen haben das Klima gerettet! Der Beweis ist erbracht! Die Erderhitzung ist nicht eingetreten, weil wir Deutschen uns so angestrengt haben.“ Nachhaltig, ökologisch, ein Vorbild für die ganze Menschheit, ja – so wollte Hanno leben. Eine Zukunftsdystopie. Von Manfred Haferburg

IMAGO / Michael Gstettenbauer

Wie immer wachte Hanno ein paar Minuten vor der offiziellen Klimaweckzeit auf. Aufstehen nach Sonnenaufgang, zu Bett gehen vor Sonnenuntergang, so sparten die Deutschen den Lichtstrom. Im Winter fand Hanno das cool, im Sommer eher nicht. Sein Organismus war durch das lange Training angepasst und Hanno freute sich darüber. Er hasste es, wenn er noch schlief und plötzlich der Lautsprecher krächzend optimistische Musik und Klimaweisheiten plärrte. Im ganzen Land war in jedem Wohnraum so ein Lautsprecher pflichtig. Um die wichtigen Nachrichten im Kampf gegen die Klimakatastrophe frisch von der öffentlich-rechtlichen Klimaradio-Station zu vernehmen.

Aber wenn sie wenigstens eine anständige Soundqualität in die Dinger einbauen würden … Den klirrenden Plärrer konnte man nicht mal leiser stellen, das war technisch nicht vorgesehen. Und wer erwischt wurde, wenn er den Lautsprecher in eine Decke einwickelte, dem wurden Sozialpunkte abgezogen. Da kannten die Klimagarden nichts.

Hanno blieb noch ein paar Minuten liegen und hörte die Nachrichten des einzigen zugelassenen Senders. „Den hochwirksamen und nebenwirkungsfreien Impf-Maßnahmen der WHO sei dank“, freute er sich zu hören, „ist heute kein Pandemie-Tag. Heute ist keine Quarantäne, kein Tages-Impfaufruf … Aber es wird von der Administration dringend angeraten, weiterhin die ‚guten Gesten‘ einzuhalten: Maske, Abstand, Leugner melden.“ Es würde heute zum Glück keine gelben Seuchenfähnchen auf den Gehwegen, keine Sprühkommandos beim Desinfizieren der Korridore, keine Impfkontrolleure an der Ecke geben. Er durfte sein Zimmer verlassen, wann immer er wollte.

Noch ein wenig träumerisch kam ihm in den Sinn: „Wir haben auf ganzer Breite gesiegt. Die Politik der Wenden war unglaublich erfolgreich. Deutschland hat als Vorreiter mehrere fulminante 360-Grad-Wenden hingelegt. Die Energiewende ist gelungen, es gibt keine Atom- oder fossilen Kraftwerke mehr. Die Verkehrswende hat sich durchgesetzt, es fahren keine Autos mehr auf der Straße. Die Ernährungswende hat die Ernährungsgewohnheiten umgekrempelt, bei Gartenpartys grillen junge Männer Gemüse und trinken dazu stilles Wasser. Die Agrarwende hatte dafür gesorgt, dass die Tierzucht eingestellt wurde. Die Heizungswende war so erfolgreich, dass es kaum mehr Einfamilienhäuser gibt – höchstens ein paar für die obersten Nachhaltigkeitsführer.

Die Wenden waren zum Glück unumkehrbar gemacht worden. Kraftwerke wurden gesprengt, Wissenschaft auf klimaschädlichen Gebieten verboten, ausgebaute neuwertige Gas- und Öl-Heizungen wanderten in Massen in den Ostblock. Deutschland wurde unter der weisen Führung des großen Klimakanzlers – gewählt auf Lebenszeit und darüber hinaus – ganz und gar CO2-neutral, viel früher als alle anderen Länder, auch solche, die 100.000 km entfernt lagen.

„Wir Deutschen haben das Klima gerettet! Der Beweis ist erbracht! Die Erderhitzung ist nicht eingetreten, weil wir Deutschen uns so angestrengt haben.“ Hanno sinniert: Ich habe mich nicht umsonst an Straßen, Bilder und Fahrzeuge angeklebt und mich von den Klimaleugnern anfeinden lassen. Sogar in der Hamburger Philharmonie habe ich mich ans Dirigentenpult geklebt – die Leute waren begeistert. Ich war ein richtiger Held! Der ehemalige Bundeskanzler Erich Honecker hatte völlig recht, als er sagte: „Den Klimawandel in seinem Lauf, den halten deutsche Vorreiter auf.“

Das Land wurde von den Erneuerbaren voll versorgt. Auf jedem Quadratkilometer Deutschlands stand jetzt ein stolzes Windrad. Auf jedem Dach der vielen Massen-Wohnblöcke und überall am Wegesrand glitzerten die Solarkollektoren bläulich. Strom gab es jetzt „angebotsorientiert“ – meist um Mittag, wenn die Sonne schien oder zu anderen Tageszeiten, falls der Wind wehte und die Wasserstoffgeneratoren genug Strom übrig ließen. Es hatten sich ganz neue hochqualifizierte Berufsgruppen herausgebildet: Windradflügelreiniger und Solarpaneel-Wäscher.

Die Schwurbler hatten nicht recht behalten. Es hatte keinen verheerenden Blackout gegeben. Der Strom war nicht weg, er war nur nicht immer da. Die energieintensive Industrie hatte sich, der großen Nachhaltigkeitsregierung sei dank, schon vor Jahren vom Acker gemacht, brauchte eh keiner. Wozu Aluminium erschmelzen, wenn es keinen Bedarf für Aluminium gab? Kein Mensch brauchte mehr ein neues Flugzeug aus Aluminium, weil es ohnehin nur noch ein paar Regierungsflieger im Bestand gab. Und die Fondant-Lichterfest-Figuren zu Weihnachten wurden jetzt statt in bunte Stanniolfolie in nachhaltigem Zeitungspapier eingewickelt. Schokolade gab es zum Wohl der Gesundheit und des Klimas schon lange nicht mehr. Weihnachten war auch so ein klimaschädliches reaktionäres Fest gewesen. Und Autos wurden in Deutschland nicht mehr gebaut. Die paar Staatskarossen kamen aus China.

Hanno dachte an seine Eltern zurück. Seine Mutter, diese Umweltschädigerin, hatte doch tatsächlich jeden Tag frische Unterwäsche angezogen. Was da die Waschmaschine an wertvollem Strom verbraucht hatte! Bei Hanno hielt ein Schlüpfer glatt drei Wochen durch. Seine Mutter büßte ihre Klimasünden jetzt im Massenschlafsaal eines Pflegeheims ab. Das war ja auch irgendwie gerecht und vor allem sehr nachhaltig. Hanno hatte sie schon seit zwei Jahre nicht gesehen. Es war einfach zu weit fürs Fahrrad. Und Bahnfahren verbrauchte zu viel Energiepunkte, wenn überhaupt noch ein Zug ging.

Draußen war es arschkalt. Seine Bude war genauso kalt. Heizen war klimaschädlich und daher eigentlich unbezahlbar. Hannos Bleibe – ein genormtes Wohnklo mit Kochnische im Neubaublock – ein Fenster, ein Bett, ein Stuhl. Kein Schrank. Ihm standen 20 Quadratmeter zu, mehr wäre klimaschädlich.

Hanno besaß nichts und war glücklich. Na ja, das Volks-Lasten-Fahrrad neben der Tür mit dem großen runden VW-Zeichen war schon sein eigenes. Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte er deswegen. Er tröstete sich damit, dass er das Fahrrad ja brauchte, um den getrennten Müll vorschriftsmäßig zur Sammelstelle zu bringen und potenziellen Klimasündern auf die Spur zu kommen. Wenn er bei seinen freiwilligen Kontroll-Touren eine Klimasünde sah, meldete er es auf einer der unzähligen Meldeplattformen an die Klimagarden, die sich den Delinquenten umgehend vorknöpften.

Neulich hatten sie, auf seine Meldung hin, einen Klima-Desinteressierten hops genommen. Der hatte doch glatt während der Ansprache der Klima-Bürgerratsvorsitzenden im Gemeinschaftsfernsehraum demonstrativ gegähnt. Hundert Sozialpunkte und drei grüne Joints hatte Hanno die erfolgreiche Meldung eingebracht. Er war immer noch entsetzt über die Unverfrorenheit des Klimaignoranten. Klimadesinteresse kam gleich nach Klimaleugnung.

Hanno hatte sein tägliches Energiekontingent in ein warmes Gemüsecurry aus der Vegana-Gemeinschaftsküche am Klimacampus und in das teilweise Aufladen der Batterie seines Lastenfahrrades und seines Handys investiert. Dabei konnte er noch von Glück reden, als verdienter Veteran der „Letzten Generation“ bekam er eine Sonderzuteilung von einer Kilowattstunde pro Tag. „Alles richtig gemacht, Hanno“, dachte Hanno erfreut. Manchmal konnte er allerdings die Kilowattstunde nicht nutzen, weil er sie nicht bezahlen konnte. Dazu reichte das Salär als Klimaregulierer nicht immer. Die 12-Stunden-Woche war durchgehend eingeführt worden, das Gehalt war nicht sehr hoch. Aber auch das war gut fürs Klima.

Der Gedanke an sein Energiesonderkontingent machte ihn lächeln, als er bibbernd die eiskalte Dusche aufdrehte und erst mal reinpinkelte. Vollstrahl – zum Wasser sparen. Ja, jeder kleine Beitrag rettete das Klima. Auch dieser. „Am Wochenende muss ich mal wieder lauwarm duschen und Haare waschen“, dachte er: „Ich muss unbedingt versuchen, irgendwo Shampoo aufzutreiben.“ Das tägliche kalte Duschbad hatte ihn gut abgehärtet, er hatte sich schon lange nicht erkältet. „Gut so, ein Arztbesuch kostete 100 Sozialpunkte, wer braucht denn sowas?“ Außerdem gab es enorme Wartezeiten bei den Arztterminen. Es waren vor der Einführung des „Fachkräfte- Auswanderungsverhinderungsgesetzes“ zu viele Ärzte in die umliegenden Klimasünderländer abgehauen. Heute ging das nicht mehr so einfach. Jeder konnte zwar gehen, musste aber weiter in Deutschland Steuern zahlen und bekam seine Rente nicht hinterhergeschickt – wäre ja noch schöner.

Zum Frühstück rührte sich Hanno einen köstlichen Instant-Hirsebrei mit Sojamilch an. Die kalte Schleimigkeit des Breis störte ihn nicht sonderlich. Er dachte daran, wie seine Eltern zum Sonntagsbrunch Rühreier mit Schinken in einer Pfanne gebraten hatten, als er noch klein war. „Igittigitt, Tierembryonen mit ekeligem Fleisch! Zum Essen gebraten! Gesundheitsschädlich! Was für eine Energieverschwendung!“, dachte Hanno. Seit er sich, wie alle Klimabürger pflichtgemäß und konsequent nach der Cem-Methode „Gesunde Klima-Veganerie“ ernährte, fühlte er sich gut. Es gab eh nicht viel anderes auf die Lebensmittelkarten zu kaufen. Und ein paar Sozialpunkte gab’s obendrauf – aber nur, wenn er penibel Buch darüber führte und die leeren Hirsepackungen bei der Papier-Sammelstelle ordnungsgemäß gegen einen grünen Joint eintauschte. Auch unerwartete Vegankontrollen konnten immer und überall passieren.

Zum Mittag würde er sich einen leckeren Mehlwurm-Burger gönnen. Insekten waren erlaubt, wenn auch fast unbezahlbar.

Ein Blick auf die Ladestandanzeige der Batterie seines Lastenfahrrades der Marke „Volks-Laster“ sagte ihm, dass er die Steigung der Graichenallee nur mit kräftigem Beistrampeln würde bewältigen können.

Der Strom in seiner Bude war schon seit einer halben Stunde abgestellt. „Dein Kontingent ist für heute verbraucht – Du könntest mehr tun – das Sparen jeder Kilowattstunde rettet den Planeten“, zeigte das Display auf dem Smartmeter an. „Mist“, dachte Hanno, „hätte ich vorher abgestellt, gäbe es 10 Sozialpunkte von oben.“ Aber er musste heute unbedingt zur Mülltrennstelle fahren. Sein Lastenrad-Container war voller Umwelt-Sammeltüten. Und die Bio-Tüte aus Umweltpapier suppte untenrum schon ziemlich geruchsstark.

Hanno fiel ein, dass er mal wieder Elter2 anrufen könnte. Sie lebte am anderen Ende der Stadt in einer Null-Energie-Kommune und es war ein bisschen zu weit mit seinem Volks-Fahrrad. Hanno gefiel es bei den Hard-Core-Klimaschützern nicht so richtig. Die kannten nur ein Thema. Und ihr Lebensstil war extrem, sie recycelten sogar ihren Urin. Hanno hatte sehr begrenzte Sehnsucht nach Elter2.

Das gemeinsame Kind lebte von Anfang an in einer LBTQ-Kommune und bereitete sich auf die Entscheidung vor, welchem der 65 Geschlechter es eines Tages angehören wollen würde. Hanno hatte vor Tagen einen Brief von ihm:in* m/w/d bekommen, den Inhalt aber nicht verstanden, weil der/die/das nach Gehör schrieb und auch nach Gehör genderte. Er hatte nichts dagegen, dass heutzutage in der Schule nur noch alternativ gerechnet wurde, das Hauptfach war ohnehin „Nachhaltigkeitskunde“. Physik, Bio und Geografie waren abgesetzt und galten als „klimaschädliches Wissen“. Insgeheim gestand Hanno sich ein, dass auch er ohne sein Handy nicht rechnen konnte. Deshalb war es ihm viel wichtiger, dass die Kinder in der Schule das effektive „Wischen“ auf dem Touchscreen lernten. Und natürlich Nachhaltigkeit.

Er musste langsam los. Er öffnete das Fenster und steckte den Kopf so weit als möglich zwischen die Fenstergitterstäbe, um die Straße zu überblicken. Alles ruhig. Manchmal musste er warten, bis die Gekommenen weiter gezogen waren, vor denen nichts und niemand sicher war. Das waren Männer, die keine Sozialpunkte brauchten und denen sein Volks-Fahrrad eine leichte Beute gewesen wäre. Und es hätte ihn auch noch eine Strafe gekostet, sich das Lastenrad von den Gekommenen wegnehmen zu lassen. Weil er als Weißbrot sie mit seinem Fahrradwohlstand rassistisch provoziert hätte.

Aber es war viel besser geworden mit den Gekommenen. Seit es hieß, dass auch die sozial Schwachen ihren wenn auch kleinen Beitrag zur Abwendung der Klimakatastrophe leisten dürften, war das Bürgergeld klimagerecht angeglichen worden, so wie die Renten und auch die anderen sozialen Zuwendungen, zum Beispiel Krankengeld. Daraufhin waren viele der Gekommenen weiter gezogen, in andere Länder. Sie wurden jetzt Gegangene genannt.

Einige der verbliebenen Gekommenen hatten sich allerdings angewöhnt, durch die Städte zu streifen und die soziale Gerechtigkeit auf ihre Weise herzustellen, indem sie den „Kartoffeln“ als Sühne für die koloniale Vergangenheit Handys, Lebensmittelkarten und Volksfahrräder abzogen. Es war nicht ratsam, sich dagegen zu wehren. Die Gekommenen konnten sehr rabiat werden. Oft hatten sie Messer dabei, was Einheimischen verboten war. Und auch die Polizei und die Richter waren der Meinung, dass es nicht ratsam sei, die ehemals Unterdrückten mit seinem Reichtum zu provozieren. Besser war, ihnen nicht zu begegnen und ihnen wo es ging, auszuweichen. Besonders als Frau oder LBTQ-Mensch.

Jetzt musste er aber wirklich los, um noch vor dem großen Ansturm zur Nachhaltigkeits-Mülltrennungs- und Recyclings-Sammelstelle zu kommen. Vielleicht konnte er eine neue Biomüll-Papiertüte ergattern, morgens hatten sie manchmal noch ein paar. Dann brauchte er die alte durchweichte nicht zu trocknen. Sie müffelte schon sehr heftig. Mühsam buckelte er das Volksrad die dunkle Treppe herunter auf die Straße. Hier war es für die Jahreszeit viel zu kühl – ein Beweis für den Erfolg bei der Klimarettung.

Hanno schwang sich in den Sattel und trat kräftig in die Pedalen. Die kalte Luft erfrischte ihn und Hanno lächelte unter seiner kampferprobten FFF-Maske. Nachhaltig, ökologisch, ein Vorbild für die ganze Menschheit, ja – so wollte Hanno leben.


Manfred Haferburg, Safety Culture & Organisation

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