Tichys Einblick
Eine ideengeschichtliche Glosse

Die sanft lockende Erotik des Konservatismus

Vom stilistischen Staub befreit entwickelt eine alte Idee hippe Anziehungskräfte.

© Gareth Cattermole/Getty Images for BFI

Die Jungs von der Jungen Union waren Mitte der 1990er Jahre eigentlich immer irgendwie uncool: Ihre Polo-Shirts waren zu gebügelt, ihre beigefarbenen Chino-Hose doch tatsächlich mit Bügelfalte, der mittelblonde Scheitel zu akkurat – außerdem waren sie sich nicht zu doof, Aufkleber mit dem Aufdruck „Black is beautiful“ auf ihre Schulmappe zu kleben (nicht mal den Mumm das Ding an den Laternenpfahl zu pappen hatten sie, denn das war ja vielleicht eine Ordnungswidrigkeit) … und Fähnchenschwingen für Helmut Kohl … tat dem Karma nun wirklich nicht gut. Der Künstler Rocko Schamoni schrieb deshalb 1991 die durchaus eingängigen Liedzeilen:

Du wählst CDU, darum mach‘ ich Schluss
lass‘ mich bitte bloß in Ruh‘, denn du redest Stuss
Du fährst ’nen Mercedes, ich fahre mit der U-Bahn
Und der Volker Ruhe gefällt dir scheinbar sehr

Wer in irgendeiner Form nicht als hoffnungsloser Idiot und Verlierer oder beides dastehen wollte, kaufte sich entweder ein Moped oder wurde Mitglied bei den Jusos und hatte kein kleineres Programm als als „kritischer Motor der SPD“ die Welt zu verändern – das machte bei den Mädels viel mehr Eindruck. Die eigene Lebenserfahrung mag hier als verifizierter Indikator gelten …

Tempi passati. Die Mädels sind schon längst weg.

Das Palestinensertuch macht sich auch zum Anzug gut

Mit großen Erstaunen und begleitet durch ein erwartungsvolles Lächeln tut sich etwas in der politischen Ästhetik: Hatte die Linke über lange Zeit die Hegemonie über die zeitgemäße Interpretation der universell-angesagten Lebenswelt, so wirkt das Einflechten, Kombinieren oder gar Bekenntnis zu einem „konservativen“ Stilbewusstsein heute nicht nur interessant, sondern so manches Mal geradezu progressiv. Es scheint als hätte der – in der Marketingtheorie bekannte – „wear out“-Effekt langsam aber stetig die linke Form der Gestaltsetzung überrannt … zerrissene Kleidung im Vintage-Look sind heute bereits Teil der konsumatorischen Mitte, Palästinenser-Tücher passen manchmal bestens zum Zweireiher und Dr. Martens-Gesundheitsschuhe lassen sich selbst auf der Opernbühne richtig schick tragen.

Viel wichtiger ist aber die inhaltliche Veränderung: Im Ergebnis eines Lebensverständnisses, dass die übergreifende Autonomie, in Kombination mit ständig um sich greifenden Partizipations- und Mitbestimmungsangeboten fordert, werden sämtliche Orientierungsmarken relativiert bzw. vollständig aufgelöst. Wenn der einzige Indikator für die Vorstellung eines gelingenden Lebens man selbst ist, dann verliert alles andere Markierungskraft. Der kanadische Autor und Künstler Douglas Coupland („Generation x“) schrieb vor mittlerweile fast 20 Jahren: „Ist Nichtfühlen das unvermeidliche Endresultat von an nichts glauben? Und dann bekam ich auf einmal Angst – beim Gedanken daran, dass es möglicherweise gar nichts besonderes gab, an das man glauben konnte. Ich musste daran denken, dass es wirklich ein perverser Witz wäre, jahrzehntelang am Leben bleiben zu müssen, ohne an etwas zu glauben oder etwas zu fühlen.“ Als psychologischen Ausweg erkennt er die Tendenz alles mit Zynismus und Entwertung zu überziehen. Und so ist in der Tat beobachtbar, dass alles und jeder nach kurzer Zeit gedanklich entzaubert, persifliert oder lächerlich gemacht wird: Auf einen emotionalen Werbespot folgt sogleich ein Werbespot, der die Mechanik „emotionaler Werbespots“ entlarvt oder gebieterisch aufdeckt … nichts darf so sein, wie es ist. Ganze Verbrauchermagazine im TV leben von dem Versuch den Menschen, „Wahrheiten“ aufzudecken, Nachrichten zu relativieren. Der Mensch ist kein emotional genießender Kunde mehr, sondern nur noch ein rational verbrauchender, dem man die Produkte mehr-oder-weniger schier in den Visage schaufeln muss … Allerdings: Alles relativ bedeutet, dass eben nichts ist. Das Leben besteht aber nicht aus Nichts. Das Leben ist unausgeglichen, tendenziell und fast immer parteiisch.

Wenn alles Zentrum ist, dann ist nichts Zentrum

Die Besonderheit der Postmoderne ist nicht nur eine Bindungslosigkeit, sondern gleichzeitig eine unüberschaubare Menge an (kurz- oder langfristigen) Fixierungs-Optionen: Früher gab es einen Gott, eine Kirche, einen Glauben. Heutzutage haben die Menschen die Möglichkeit, Anhänger fast jeder Religion zu werden, Schamane oder Atheist. Früher wählten die Menschen zwischen Rollbraten und Gänsekeule, heute werden Teriaki, Chicken Masala und Jam-Wurzeln mit in die Entscheidungsfindung miteinbezogen. Dies führt zu dem Resultat, dass die Postmoderne aufgrund der unüberschaubaren Menge an Angeboten eben keine festen Strukturen und Fixierungen bietet. Der Philosoph Peter Sloterdijk formuliert deshalb: „Wo alles Zentrum geworden ist, gibt es kein gültiges Zentrum mehr; wo alles sendet, verliert sich der vermeintlich zentrale Absender im Gewirr der Botschaften.“

Vor diesem Hintergrund wirken die immer gleichen Protestrituale der politischen Lager einstudiert, leer und manchmal lächerlich – sie sind aus der Zeit gefallen. Sie sind Erinnerungen an eine Zeit, deren Klarheit bzw. Fokussierung es nicht mehr gibt – kaum etwas macht dies brutaler deutlich als ein Demontrationszug zum 1. Mai, den selbst Gewerkschaftsfunktionäre nur mit viel Korn und einer 1 Meter-Bratwurst für 6 Euro ertragen können. Das stets euphorisch gebrüllte „Solidarität ist nötig“ verliert sich im Chanel-Duft des sozialversicherungspflichtig protegierten Feiertages …

Was ist konservativ?

Wie geht es eigentlich dem Konservatismus? Er wird seit einigen Jahren heraufbeschrieben, erreicht das Feuilleton der ZEIT, selbst taz und Freitag widmen sich einer Beschäftigung. Bibliotheken werden gegründet und so manch Politiker bekennt sich zu seinen konservativen Grundwerten. Wir alle wissen: Grundwerte ist ein anderes Wort für „Nicht-praxisrelevant“, so ein bisschen wie die Aussage im Möbelhaus, dass man die Möbel in 4-6 Wochen liefere – d.h. man kennt den Termin nicht.

Mit dem Konservatismus geschieht etwas, aber von einer grundsätzlichen Bewegung zu sprechen, wäre sicherlich unpassend. Zumal auch strukturelle Spitzfindigkeiten bestehen: Die Orientierung an der „sozialen Marktwirtschaft“ bei der (bisher) eigentlich konservativen Partei in Deutschland hat den direkten Bezugswillen der CDU zu dieser Kernbegrifflichkeit über Jahrzehnte verhindert. Die CDU hat immer noch Probleme damit, sich (auch) als konservativ zu verstehen. Konservativ bedeutet immer noch „zuviel Pomade im Haar“ und „reaktionäres Gedankengut“.

Umso spannender ist es, die Selbstdefinition der letzten drei Jahre zu durchleuchten: So scheint konservativ heute bestimmt durch ein „festes Wertefundament“, das davon ausgeht, es gäbe „bewährte Erkenntnisse und Erfahrungen. Gerade Bereiche wie „Religion“ oder „Kulturelle Identität“ würden Träger dieses kollektiven Wissens sein. Das ist durchaus sexy bedeutet es doch, dem Sein eine Richtung, einen Zweck zu geben, der über die Selbstverwirklichung bei Joga, Achtbarkeitsseminaren (für sich selbst!) und individualisierbarem Müsli („5 Gramm Amarant mehr bitte …“) hinausgeht. Es bedeutet aber auch: Das Bestehende immer wieder zu prüfen – auf seine universelle Beständigkeit.

Eher profan wirkt es dagegen, wenn die genannten Grundfesten auf die Praxis angewendet werden. Dann heißt konservativ: Verantwortung und Freiheit, Leitkultur, Heimat und Soziale Marktwirtschaft, Familie und Umweltschutz und durchaus auch der Patriotismus. Machen wir uns nichts vor: Sobald diese Begriffe fallen, schwingt bereits ein Hauch des Verlorenen mit. Denn Geschichte ist nicht rückführbar.

Konservativ sein, heißt – und das macht die oben stehende Anwendung strukturell immer schwach – das Denken im langfristigen Kontext, im Zusammenhang. Konservativ heißt, die intellektuelle Herausforderung und sozialpsychologische Rückweisung anzunehmen, dass selbst das zur Zeit Bestehende „relativ“ ist. Wertneutralität in extremo. Ein Paradoxon: Das Bewährte wird nur daran erkennbar, dass wir es überdenken und prüfen … an Tatsachen und nicht an (durchaus nachvollziehbaren) ethischen Idealen. Kant formulierte mit dem Kategorischen Imperativ ein Idealtypus, gerade weil er sich darüber bewusst war, dass die Realität ein solches Verhalten kaum offenbart.

Der Konservative ist renitent individuell

Bei der Suche und Überprüfung nach und von dem Bewährten ist das Ergebnis nicht definiert: Die konservative Sozialität hat keine ins Detail gezeichneten Baupläne, eine prozessuale Weltordnung ist ihr (auch wenn Oswald Spengler als Kind seiner Zeit „Zyklen der Geschichte“ raunte) per se fremd, denn konservativ sein bedeutet auch, eine renitent individuelle Ansicht zu bewahren. Was sich bewährt, unterliegt der Betrachtung und der intellektuellen Tiefe des Einzelnen. Und genau diese Bewertung wird in Zeiten unzähliger Indikatoren und Bemessungsgrundlagen immer schwieriger.

Konservativ sein bedeutet vor diesem Hintergrund eine ewige Suche nach Optionen, die den Menschen als „soziales Wesen“ vor der Bindungslosigkeit einer haltlosen Welt (Ralf Dahrendorf) schützen will. Leben heißt nicht nur das Aufzeigen von Optionen, sondern gleichzeitig auch das Bewusstwerden und die Pflege von Bindungen bzw. Ligaturen. Mit dem Gründervater der deutschen Soziologie formuliert: Das Leben ist nicht nur Gesellschaft, sondern vor allem auch Gemeinschaft. Liebe, Zuneigung und Mitfühlen braucht Bindung. Der Dichter Johann Seume machte diesen Zusammenhang viel besser klar: „Wo man singt, da laß‘ dich ruhig nieder,: böse Menschen haben keine Lieder.“

Vor diesem Hintergrund kann konservatives Denken dem freien Spiel der Kräfte in Markt und Kultur nur kritisch begegnen, denn ein globales Netzwerk allein opportunistischer Verknüpfungen entfremdet den Menschen.

Konservatismus ohne Bügelfalte

Et alors? Warum ist also das konservative als gesellschaftliche Philosophie in unserer Epoche liebenswert? Vielleicht weil eine hochkomplexe, aber dennoch standardisierte Alltagswelt mit vorgegebenen Mustern, Verhaltensweisen und Produkten in den wenigen ruhigen Momenten unserer Existenz, in denen kein Autoradio quakt und uns kein blauschimmerndes Smartphonelicht bescheint, Formen der Ohnmacht und Einsamkeit hervorruft. Eben jene Gefühle, die in einem „Leben ohne Gott“ (Douglas Coupland) nur dadurch überwunden werden können, indem wir vielleicht keine Wahrheiten haben, aber uns auf die Suche nach ihnen machen. Denn wenn das Leben davon geprägt ist, dass wir die vor uns liegenden 70 oder 80 Jahre als gelungen empfinden (und eben nur diese eine Chance haben), dann gilt es über Waren oder Dienstleistungen hinaus, die Stellung in der Welt zu erfassen, aber nicht definieren zu wollen. Dieses Erfassen kann durchaus relativ sein, indem wir nicht glauben, dass die eine Wahrheit besteht … aber vielleicht Tendenzen dorthin.

Im philosophischen Sinn ist „konservativ“ eine äußerst gelassene und tolerante Form, das Leben auszufüllen. Cool, würden inzwischen auch Ältere sagen. Macht euch also locker. Denn wenn sich dies dann auch noch auf die Alltagsästhetik auswirkt und ich für meine Jungs keine Falten in die Hose bügeln muss, dann dürfen meine Kinder durchaus konservativ werden.


Oliver Errichiello ist Psychologe und Soziologe. Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und der Hochschule Luzern. Zahlreiche Buchpublikationen. Er arbeitet zur Zeit an dem Buch „Individualität, Einsamkeit und Ökonomie“.

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