Carl Zuckmayer wusste es, und er hat – nach einer wahren Geschichte – eine geradezu göttliche Tragikomödie darüber geschrieben: Früher brauchte man zum Vortäuschen von Autorität eine Uniform.
Heute reicht ein Dienstsiegel.
Stempel drauf, und ab dafür: So geht des Bürokraten Handwerk. Leider ist das leichter gesagt als getan. Oder besser: Es ist viel schneller gesagt als getan. Durchschnittlich 30 Tage wartet man in Berlin auf einen Termin beim Bürgeramt. Einen vollen Monat muss der Hauptstädter also tatenlos zubringen, bevor er sein Anliegen beim Staat überhaupt vorbringen darf.
Damit ist die Sache aber ja keineswegs erledigt, denn dann wird der Vorgang natürlich überhaupt erst noch bearbeitet. Erst ganz am Schluss des langen, quälend langen, endlos langen Prozesses beendet irgendein Beamter in irgendeiner Amtsstube des Bürgers Behörden-Odyssee, indem er – endlich, endlich – einen Stempel unter das Papier hämmert.
Nun ist der handelsübliche Berliner schon seit Generationen für drei Dinge ganz sicher nicht bekannt: für Zurückhaltung, für Höflichkeit – und für Geduld.
Die ständige Warterei auf behördliche Genehmigungen, Bestätigungen oder sonst was geht den Menschen an der Spree zunehmend auf die Ketten. Wer wollte es ihnen verdenken? Nirgendwo in Deutschland muss man so lange wie in Berlin darauf warten, dass auf dem Amt etwas nicht ordentlich erledigt wird.
Das muss doch schneller gehen, haben sich einige gedacht – und sind auf eine durchaus kreative Idee gekommen: Wir basteln uns unsere Behörde einfach selbst.
Der Schuhmacher Friedrich Wilhelm Voigt klaute Anfang des 20. Jahrhunderts im Berliner Stadtteil Köpenick eine Uniform und gab sich eine Zeit lang erfolgreich als Hauptmann aus (daraus machte Zuckmayer sein Theaterstück). Der moderne Berliner klaut ein paar Dienstsiegel und schafft sich damit seine eigene Stadtverwaltung.
Tatsächlich sind auf den Ämtern der Bundeshauptstadt in den vergangenen Wochen zahlreiche offizielle Stempel, nun ja, verschwunden. Die Berliner Zeitung „Tagesspiegel“ spricht zurückhaltend von einem „rätselhafte Dienstsiegelschwund“. Zuletzt ist im Bezirksamt Lichtenberg ein Farbdruckstempel mit 35 Millimeter Durchmesser und der Kennzahl 402 „in Verlust geraten“, wie es im unvergleichlich eleganten Behörden-Deutsch heißt.
Der Zweck der Übung – bzw. des Diebstahls – ist klar: Mit ziemlich wenig Aufwand, einem normalen Drucker und etwas Photoshop-Kenntnissen kann man sich zuhause ein amtliches Dokument nachmachen. Das spart Nerven und vor allem Zeit: Die durchschnittlich 30 Tage Wartezeit auf den Termin beim Bürgeramt entfallen.
Das Ganze ist zwar Urkundenfälschung und selbstverständlich strafbar – aber der Stempel-Klau war ja auch schon nicht legal. Und die Gefahr, erwischt zu werden, ist denkbar gering: Zwar werden die entwendeten Dienstsiegel unverzüglich für ungültig erklärt, sobald ihr Verschwinden auffällt. Aber wenn ich irgendwo ein Dokument vorzeige, das mit einem echten Dienstsiegel gestempelt ist, dann ruft doch keiner extra nochmal beim Bürgeramt an, um zu fragen, ob der Stempel nicht vielleicht geklaut war.
Abgesehen davon müsste man für die Nachfrage beim Amt dort ja auch überhaupt erstmal jemanden erreichen.
Und so baut die Berliner Bevölkerung mittels entwendeter Dienstsiegel allmählich eine neue, parallele Stadtverwaltung auf. Es ist noch nicht einmal auszuschließen, dass die dann besser funktioniert als die alte.
Schneller wird sie allemal sein.