Kritik gehört zu den Voraussetzungen eines aufgeklärten, bürgerlichen Staatswesens, selbst dann wenn sie nicht besonders tiefgründig, nicht besonders niveauvoll ist. Ohne Kritik findet keine Verständigung, keine Kommunikation statt. Den Mächtigen mag Kritik lästig sein, doch in der Demokratie legitimieren Kritik und freie Wahlen ihre Macht.
Jüngstes Beispiel hierfür bietet die Rede Frank-Walter Steinmeiers zur Auszeichnung Mario Draghis mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Steinmeier begründet die Auszeichnung damit, dass Draghi Deutschland „einen großen Dienst erwiesen“ habe. Welches Deutschland Steinmeier damit meint, bleibt ungewiss.
Das Deutschland der Sparer, deren ersparte Guthaben entwertet werden, kann der Mann im Schloss Bellevue nicht gemeint haben, auch nicht das Deutschland der Krankenversicherten und das Deutschland der Rentenversicherten und Rentner. Die Niedrigzinspolitik trifft auch sie, denn Umlagefinanzierung und Erwirtschaftung von Gewinnen durch Versicherungen, um die Beiträge niedriger halten zu können, hat Draghis Niedrigzinspolitik erschwert bis schwer geschädigt. Jede Anhebung von Versicherungsbeiträgen, jeder Zuschuss des Steuerzahlers zu den Rentenkassen und zu den gesetzlichen Krankenkassen, jede Beitragserhöhung privater Krankenkassen ist ein Verdienst Mario Draghis.
Welchem Deutschland dann? Einem besonderen Bellevue-Deutschland, von dem aus die schöne Aussicht auf einen Traum geht? Ein Deutschland ohne Sparer, ohne Versicherte, ohne hart arbeitende Bürger, ein Deutschland angetrieben von erträumter Energie, bedichtet und gemalt von Kulturschaffenden, die man früher Hofpoeten und Hofmaler nannte und deren Fach die Panegyrik und die Herrschaftsmemoria war?
Am Hofe des Sozialdemokraten scheint Kritik unerwünscht, hat Kritik lobend zu sein, darf sie allenfalls sich ungeduldig zeigen, dass es mit der Großen Transformation nicht rasch und radikal genug vorangeht. Draghi hat das seine jedenfalls für die große Transformation geleistet, damit hat er Bellevue-Deutschland einen Dienst erwiesen. Denn auch dem Präsidenten geht die große Transformation nicht schnell genug, deshalb ruft er in seiner Rede dazu auf, „die nächsten Schritte hin zur Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion zu gehen“. Eigentlich zu sprinten. Deutschland so schnell wie möglich loszuwerden.
Wenn der Bundespräsident fordert, dass eine „sachliche Debatte mit Respekt und Anstand“ geführt werden müsse, so muss er den Geist so guter Lehre, wie es in Shakespeares Hamlet heißt, zuallererst selbst als Hüter vor sein Herz stellen. Ein wenig Sinn für deutsche Realität und deutsche Interessen wäre angebracht. Auch hat der Bundespräsident, sich weder zu wünschen, noch zu behaupten, dass „die Debatte nicht ausschließlich von denjenigen geführt werde, „die Niedrigzinsen in den Vereinigten Staaten gut finden und in Europa schlecht oder gleichzeitig für die Sparer schlecht und für die Bauwirtschaft gut“. Denn erstens entspricht es weder dem Grundgesetz, noch der Demokratie bei aller Schönheit von Bellevue, dass ein Bundespräsident sich den Verlauf oder die Teilnehmer einer gesellschaftlichen Debatte zu wünschen hat. Zumindest würde dieses Verfahren an ein Gedicht von Bertolt Brecht erinnern, in dem es heißt: „Wäre es da/ Nicht doch einfacher, die Regierung/ Löste das Volk auf und/ Wählte ein anderes?“
Man weiß nicht mehr so recht, wo das Schloss Bellevue liegt. Man weiß nur, dass dort ein Präsident lebt, der immer weniger als Instanz, als Präsident aller Deutschen von allen Deutschen angesehen wird. Es stellt sich die Frage, ob er das je sein wollte, oder ob der Präsident in seinem Schloss sich inzwischen „seine” Deutschen ausgewählt hat. Die, die dazugehören zur Republik Bellevue, und die, die nicht zur Republik Bellevue gehören.