Der Begriff „Aussitzen“ ist ein Erbe Helmut Kohls. Aussitzen auf das Verhalten seiner nachfolgenden Kanzlerin zu übertragen, ist eine der Oberflächlichkeiten des heutigen Medienbetriebes. Mit diesem Aussitzen sei die Kanzlerin in die Fußstapfen Kohls getreten, klagte gestern ein Journalist am Telefon.
Erst danach sagte ich mir, mit Aussitzen kann man doch in keine Fußstapfen treten. Beim Aussitzen sitzt man ja und stapft nicht. Stapfen ist eine Bewegung und Aussitzen nicht. Dass mir das nicht sofort während des Telefonats einfiel, war das ein Aussetzer? Jedenfalls kein Aussitzer.
Reitersleute wissen, dass beim wundervollen Leben mit Pferden Aussitzen die Kunst stilvoller Körperhaltung bei Trab und Galopp ist, also der Inbegriff von Bewegung als einmaligem Erlebnis voller Freude und Kraft. – Bei der Kanzlerin liegt der Genuss im Aussitzen darin, dass sich politisch nichts bewegt, rein gar nichts. Damit das nicht allen auffällt, wechselt die Aussitzerin ab und zu die Beisitzer aus. Vortäuschung von Bewegung, weil Beisitzer beim Beisitzen auch nur aussitzen.
Aussitzen als politisches Verhalten bedeutet auch bei Kohl und Kanzlerin etwas ganz anderes. Kohl wusste, was er nach dem Aussitzen tun würde, deshalb saß er etwas ja aus. Die Kanzlerin, also jedenfalls die jetzige, sitzt ihre Amtszeit aus, ohne die Absicht, das Aussitzen je zu beenden oder mit der Absicht, nach dem Aussitzen etwas anderes zu tun als Auszusitzen. Sie sitzt ihr Amt gern voll aus.
Am unangenehmsten findet sie das Aussitzen der Phasen des Aussitzens auf dem Amt der geschäftsführenden Aussitzenden zwischen den Phasen des ordentlichen Aussitzens. Das wäre auch so, wenn sie eine Phase zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und einem anderen wie des Präsidenten der EU-Kommission aussitzen müsste, bevor sie dann das ordentliche Aussitzen im Kommissionstuhl fortsetzen könnte.
Dabei scheint den Bürgern der Berliner Republik, jedenfalls einer großen Mehrheit von ihnen – einer zu großen, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf – völlig unbewusst zu sein, dass die Kanzlerin ihrer Lieblingstätigkeit, ja dem Sinn ihres Lebens, dem Aussitzen des Amtes also, nur nachgehen kann – halt, halt, das ist wie mit dem Stapfen, nachgehen wäre eine Bewegung. Also das Aussitzen nur fortsetzen kann, weil es diese Bürgermehrheit selbst ist, die diese Kanzlerin schon ein Dutzend Jahre aussitzt und die Restsitzlaufzeit der Kanzlerin wohl auch aussitzen will.
Das Aussitzen des Aussitzens der Aussitzerin ist also die Folge des fortgesetzten Aussitzens der aussitzenden Kanzlerin durch das aussitzende Volk.
Verehrte Leser, irgendwie drängte es mich, das Phänomen des Aussitzens uns allen nahezubringen – am Tage nach dem großen Fest der Auferstehung. Heute, am Ostermontag zeigte sich der Auferstandene seinen Jüngern.
Ich wünsche uns allen, dass diesen Ostern mehr folgt als sonst. Ich schlage vor, dass ausreichend viele Bürger mit dem Aussitzen der Aussitzerin aufhören und sich erheben. Stapfen ist besser als aussitzen.