Tichys Einblick
Geschichte des Sozialismus – Teil 2 von 3

Als die Sozialisten die Freiheit für sich entdeckten

Aufbauend auf Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie gelang es den Kulturrevolutionären der 60er Jahre, im langen Marsch durch die Institutionen gewaltfrei entscheidende Elemente des Sozialismus bereits gesellschaftsfähig zu machen. Dazu bedienten sie sich aber nicht des Zwangs, sondern im Gegenteil der Freiheit.

Wer hätte gedacht, dass sich mit sowas der Kampf um die kulturelle Hegemonie gewinnen ließe? Antwort: Sozialisten.

IMAGO / United Archives

Wenn es um die Definition des modernen Sozialismus geht, wird oft bei der Kulturrevolution der 60er Jahre, auch bekannt als 68er-Zeit, angesetzt. Obwohl es falsch wäre, darin etwas gänzlich anderes als Formen des Sozialismus früherer Jahrhunderte zu erkennen, so liegt dennoch ein Kern von Wahrheit darin, dass es einen grundlegenden Unterschied gab. Denn im Gegensatz zu früheren Revolutionären, die vor allem nach unmittelbarer Machtergreifung strebten, waren die 68er Geisteskinder des womöglich einflussreichsten kommunistischen Theoretikers des 20. Jahrhunderts, Antonio Gramsci, dessen Forderung nach kultureller Hegemonie zum Schlachtruf moderner Nachkriegssozialisten wurde.

Die von Gramsci entwickelte Theorie der kulturellen Hegemonie entstand während seines Gefängnisaufenthalts unter Mussolini, fast zur gleichen Zeit, in der Stalin – der „staatssozialistische Kompromiss“ – in der Sowjetunion das Ruder übernahm. Im Gegensatz zu den Autokraten seiner Lebenszeit, stellte Gramscis kulturelle Hegemonie eine Form des „sanften Totalitarismus” dar, der mit Hilfe der Intellektuellen einen neuen, sozialistischen Status quo etablieren und für weite Teile der Bevölkerung akzeptabel machen sollte.

Einer der zentralen Angriffspunkte zur Etablierung einer neuen kulturellen Hegemonie lag für Gramsci im Kampf gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, die im Westen vor allem durch die katholische Kirche bestimmt war. Eine seiner Forderung bestand darin, dass der Marxismus mit einer Symbiose aus der humanistischen Kirchenkritik der Renaissance und der Reformation (sic!) die kulturelle Hegemonie der Kirche durchbrechen solle. Nur wenn der Marxismus den Menschen ein alternatives Glaubensgebäude bieten könne (Stichwort: Ersatzreligion), würde er sich zur dominanten kulturellen Kraft der Gesellschaft aufschwingen können.

Der Teufel, der natürlich die Quelle all dieser gottlosen utopischen Träume ist, hatte nach der russischen Revolution nämlich eine wichtige Lektion gelernt: In der Sowjetunion versuchten die Bolschewiki, die Religion zu verbieten, scheiterten aber, denn wenn man etwas verbietet, wird es nur umso attraktiver, und so bewahrten viele Russen ihr orthodoxes Christentum im Verborgenen. Diese christliche Präsenz im Verborgenen gipfelte sogar darin, dass Stalin angeblich anordnete, die Ikone der Gottesmutter von Kasan in einem Flugzeug über Moskau fliegen zu lassen, um die Stadt vor den angreifenden Deutschen zu schützen.

Unabhängig davon, ob dies ein Akt politischen Opportunismus war, um sich die Unterstützung der russischen Bevölkerung zu sichern, zeigt es doch, dass es den Bolschewiki 25 Jahre nach ihrer Machtergreifung letztlich nicht gelungen war, die Religion aus den Herzen und Köpfen des Volkes zu verbannen.

Als der Teufel die Freiheit für sich entdeckte

Doch während der Teufel den Russen den Glauben verbot und damit scheiterte, hatte er bei der Kulturrevolution im Westen Erfolg – nicht, indem er sagte: „Du sollst nicht“, sondern indem er sagte: „Du musst nicht“. Die verheerenden Auswirkungen des 2. Vatikanischen Konzils auf das religiöse Empfinden sind das beste Beispiel dafür. In ihrem öffentlich verkündeten Versuch, „mit der Zeit zu gehen“, übernahm die katholische Kirche eine Vorreiterrolle beim Abbau von Gewissheiten und ersetzte diese durch Verwirrung, als sie Interpretationsspielräume zuließ, wo einst die Schönheit des Dogmas herrschte. Der Kirchenbesuch wurde gefühlt von einer Notwendigkeit zu einer Wahl. Die Zahl der Kirchenbesucher ging seitdem kontinuierlich zurück und hat sich von diesem Schlag nie wieder erholt.

Die Revolutionäre der 60er-Jahre waren im Vergleich zu ihren Vorgängern geduldiger, sie wollten nicht sofort die Macht ergreifen, sondern dachten langfristig. Strategisch gesehen muss man vor dem Erfolg von Rudi Dutschkes „langem Marsch durch die Institutionen“ den Hut ziehen. Die 68er waren in der Lage, ihren Erfolg über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinauszuschieben, obwohl ihr Weg zur Macht zugegebenermaßen nicht sehr holprig war, da sie von wohlmeinenden Konservativen reichlich Gelegenheit erhielten, sich in der Wissenschaft, der Politik und den Medien einzunisten.

Angesichts der Rolle, die Gramsci den Intellektuellen bei der Erlangung der kulturellen Hegemonie beimaß, muss auch die Explosion der Akademikerquote seit den 60er Jahren als zentraler Baustein für den Umbau der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet werden. Bei Akademikerquoten von 30 bis 40 Prozent in weiten Teilen des Westens (in Russland und Kanada sogar über 50 Prozent!), schufen sich die Sozialisten der 68er in einem Schlag nicht nur die Baumeister der kulturellen Hegemonie, sondern auch die Massen, die diese willkommen heißen.

All dies vollbrachten die 68er, ohne – sprichwörtlich – „einen einzigen Schuss zu lösen“. Die konservativen Kräfte der westlichen Welt sehen sich nun mit einer Lage konfrontiert, in der fast alle wichtigen Positionen in den Medien, im Bildungswesen und in der Politik mit Menschen besetzt sind, die mit verschiedenen Schattierungen des Sozialismus zumindest sympathisieren. Geschafft haben sie dies, indem sie sich vermeintlich liberaler Haltungen bedienten. Anstelle von „Du darfst nicht“, trat eben „Du musst nicht“ – eine Verführung, die letztlich dafür sorgte, dass der Mensch des Westens aktiv selbst dazu beitrug, einen Teil des kulturellen Zersetzungsprozesses voranzutreiben.

Viele entscheidende Schlachten haben die Sozialisten bereits gewonnen

Gramsci würde wohl Luftsprünge vollführen, wenn er die Früchte der liberalen Unterwanderung der katholischen Kirche gesehen hätte. Die Kirche befindet sich seit Jahren in einer Eskalationsspirale zeitgeistiger Trittbrettfahrerei, in deren Zuge sie ihre eigene kulturformende Funktion – zumindest in der westlichen Welt – komplett aufgegeben hat. Damit wäre einer der zentralen Aspekte sozialistischer Gesellschaftsmodelle, die Abschaffung der Religion und deren Ersatz durch Ideologie, bereits gewährleistet.

Ähnliches gilt für die notwendige Zerstörung von Familienstrukturen, die der moderne Sozialismus ebenfalls nicht durch Zwang, sondern durch Freiheit geschaffen hat. Vor allem die Loskopplung der Sexualität von der Fortpflanzung durch Verhütungsmittel wie die Pille sorgte dafür, dass im Zusammenspiel mit der Propagierung promisker Lebensformen die traditionelle Form der Familie zunehmend als antiquiertes Auslaufmodell dargestellt wurde. Die Rechnung für diesen leeren Hedonismus tritt in den letzten Jahren zunehmend deutlicher in Erscheinung, in Form individueller Vereinsamung, eines gestörten Geschlechterverhältnisses, aber auch in Form eines drohenden demographischen Kollapses in Folge mangelnder Reproduktionsraten in der gesamten entwickelten Welt.

Kurz vor Anbeginn des Jahres 2024 muss konstatiert werden: Die 68er haben zumindest auf diesen beiden zentralen Feldern des ideologischen Kampfes den Streit um die kulturelle Hegemonie gewonnen. An weiteren Kernelementen des Sozialismus, wie der Abschaffung des Privateigentums, wird fieberhaft gearbeitet. Auch hier soll die gewaltsame Enteignung nur die letzte Option darstellen, der Vorzug gilt wiederum der freiwilligen Aufgabe durch eine pervertierte Einsicht in die Notwendigkeit. Ob nun Landwirte, Gewerbetreibende oder einfache Bürger – das stete Anziehen der wirtschaftlichen Daumenschrauben soll mittelfristig zur verzweifelten Aufgabe des eigenen Privatbesitzes führen. „Du musst das alles nicht ertragen, unterschreibe einfach hier“, spricht dann der Teufel mit einem Lächeln.

Dies schafft eine historisch neue Situation, in der die aktuelle Sorte von Sozialisten, seien es Klimaradikale, Neo-Rassisten, Affenpockenverbreiter oder Professor:Innen für irgendwas mit Gender, innerhalb eines Systems, das zwar nominell noch nicht sozialistisch ist, in dem aber der öffentliche Diskurs bereits fast vollständig von der vorangegangenen Generation sozialistischer Revolutionäre und ihrer Nachkommen geprägt wurde, den vollständigen Umbau der Gesellschaft vorantreiben.

Mehr noch als in den 1960er-Jahren, als Naivität und Wohlstandsverwahrlosung in manchen Kreisen zu einer Unterschätzung der revolutionären Kräfte führten, sehen sich die Revolutionäre von heute praktisch keinerlei Widerstand etablierter Kreise gegenüber, und es ist nur ihrem offensichtlichen Mangel an politischem Talent zu verdanken, dass sie bislang nicht über die Rolle eines willigen Handlangers jener Eliten, die den politischen Diskurs in die von ihnen gewünschte Richtung steuern, hinauskommen.

Heißt das, dass man von diesen modernen Revolutionären nichts zu befürchten hat? Im Gegenteil, ihre starke öffentliche Präsenz und der seit Jahren andauernde gesellschaftliche Ausnahmezustand sind ein klares Zeichen dafür, dass die sozialistischen Kräfte, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten ihre Schachfiguren in Position gebracht haben, zum entscheidenden Schlag ansetzen.

Dem Sieg so nahe: Auf zur Weltrevolution!

Wie in Teil 1 gezeigt wurde, ändern sich in den sozialistischen Bewegungen ständig die Namen, nicht aber die Ideen. Schon die frühen Ketzer wussten, dass ihre utopischen Träume nur dann Wirklichkeit werden konnten, wenn sie sich entweder völlig vom Rest der Welt isolierten, oder wenn sie die ganze Welt zu ihrer Utopie machten. Johannes von Leiden, der Anführer der Wiedertäufer und selbsternannte König von „Neu-Jerusalem“ (das für solche Spinnereien bemerkenswert anfällige Münster), wusste bereits, dass sich sein Aufstand über die ganze Welt oder zumindest über ganz Europa ausbreiten müsse, um erfolgreich zu sein. Diese Weltrevolution ist ein zentrales Ziel eines jeden Sozialisten, der auch nur im Entferntesten etwas auf sich hält, denn die Ausrottung jeglicher potenzieller Opposition, sei es von innen oder von außen, ist für den wahren Sozialisten nicht verhandelbar.

Die Sozialisten von heute sprechen zwar nicht mehr von der klassischen „Weltrevolution“, aber sie geben sich auch keine große Mühe, ihre Ziele zu verbergen. Klimaaktivismus ist per Definition ein globales Thema, das globale Maßnahmen erfordere. Rassismus, auch wenn er angeblich nur bei Weißen anzutreffen ist, ist ebenfalls ein globales Problem, dasselbe gilt für die Rechte der Homosexuellen, auch wenn ihr Kampf im Nahen Osten etwas weniger leidenschaftlich geführt wird als anderswo, usw.

Doch wo bleibt der Widerstand? Welche Kräfte können und wollen diesem „Great Reset“, wie eine Spielart dieser Weltrevolution genannt wird, noch Einhalt gebieten? Die verhängnisvollen Allianzen, die gemeinsam die Grundlage des drohenden „Milliardärssozialismus” bilden, sollen Thema des dritten Teils dieser Reihe bilden, in dem auch einige liebgewonnene Steckenpferde des vermeintlichen Widerstands hinterfragt werden sollen. Schlussendlich wird die Frage gestellt, welche Triebkräfte hinter diesen Entwicklungen stehen und ob und wie diesen entgegengewirkt werden kann.

Lesen Sie hier die Teile 1 und 3 der Serie „Geschichte des Sozialismus“ >>>

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