Tichys Einblick
30 Jahre sind genug

Germanisten gegen rechts: Die Geschichte vom „Unwort des Jahres“

Das „Unwort des Jahres“ wurde erstmals für 1991 vergeben, als die Öffentlichkeit überschaubar war: Es gab keine digitalen Medien, und das Privatfernsehen steckte in den Anfängen. Fast dreißig Jahre später ist der Sinn der Veranstaltung fragwürdig geworden. Ein Rückblick.

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Im Bundeskanzleramt war man empört: Da hatte Kanzler Helmut Kohl in einer Regierungserklärung den ironisch gemeinten Satz gesagt: „Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven  Freizeitpark organisieren“, und drei Monate später erklärte die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS) in Wiesbaden angesichts 3,5 Millionen Arbeitsloser das Kanzlerwort vom kollektiven Freizeitpark zum (zweitplazierten) UNWORT des Jahres 1993! Das ging überhaupt nicht; schließlich wurde die GfdS als Institution der Sprachpflege vom  Bund finanziert.

Die GfdS verstand und trennte sich vom Erfinder der Unwort-Aktion, dem Frankfurter Germanistikprofessor Horst Dieter Schlosser. Dieser hatte 1991 „alle Angehörigen der deutschen Sprachgemeinschaft“ aufgerufen, im öffentlichen Sprachgebrauch verwendete Wörter einzureichen, die einen Sachverhalt verschleiern oder eine gesellschaftliche Gruppe herabsetzen, aus denen dann eine Jury von vier Germanisten das „Unwort des Jahres“ wählen werde. Nach der Trennung von der GfdS führte Schlosser diese „sprachkritische Aktion“ mit seiner Jury „institutionell unabhängig“, also privat, weiter und revanchierte sich bei der Politik mit dem Unwort 1995: Diätenanpassung, das die „Erhöhung“ der Abgeordnetenbezüge sprachlich unsichtbar mache.

Das „Unwort“ macht Karriere

Unter Schlosser als Sprecher der Jury wurde die Aktion allgemein bekannt und der – in den meisten Wörterbüchern nicht aufgeführte – Begriff „Un-wort“ zum geflügelten  politischen Argument. Aber was bedeutet Un-wort? Die Vorsilbe un- drückt hier nicht eine Verneinung aus (wie in Un-gleichheit „keine Gleichheit“, Un-dank „kein Dank), sondern eine negative Bewertung: Das Un-wort ist durchaus ein Wort, aber eines, das es eigentlich nicht geben sollte, ein „schlechtes“ Wort – so wie die Un-sitte als schlechte Angewohnheit gilt oder Un-kraut als „schädliche“ Pflanze.

Klimahysterie - Unwort des Jahres
Das „Unwort des Jahres“ ist Unsinn
Schlosser leitete die Unwort-Jury zwanzig Jahre lang, und die in dieser Zeit gekürten Unwörter decken ein weites Feld ab: Sie richteten sich gegen Bundeskanzler Kohl: kollektiver Freizeitpark (1993) und Bundeskanzlerin Merkel: alternativlos (2010);  gegen neue Begriffe der Wirtschaft: schlanke Produktion (1993), Outsourcing (1996) oder Humankapital (2004); gegen die Reformpolitik: Umbau des Sozialstaats (1996) sowie Wortschöpfungen aus Bereichen wie Asyl-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik: aufenthaltsbeendende Maßnahmen (1992), Ich-AG (2002),  Besserverdienende (1994). Kurzum: Das Unwort des Jahres war immer für eine Überraschung gut und politisch nicht zu verorten. Es ging der Jury um „Sprachkritik“, ein Hinterfragen zeitgeisttypischer Wörter, aber nicht um eine bestimmte politische Agenda.
Germanisten gegen rechts

Das änderte sich 2011, als Schlosser und ein langjähriges Mitglied in der Jury aufhörten, und diese sich durch Zuwahl eines Journalisten auf fünf Mitglieder erweiterte. Die neue Jury setzte bald auf politischen Mainstream und fand ihre Unwörter beim Thema „Migration“ und, damit verbunden, dem „Kampf gegen rechts“: 2013 Sozialtourismus („macht gezielt Stimmung gegen Zuwanderer“), 2014 Lügenpresse („nationalsozialistisch vorbelasteter Begriff, [mit dem] Medien pauschal diffamiert werden“), 2015 Gutmensch, 2016 Volksverräter. Nach 2017 alternative Fakten kehrte die Jury 2018 zum Migrationsthema zurück und präsentierte dafür gleich drei Unwörter mit folgender (gekürzter) Begründung:

● Anti-Abschiebe-Industrie: „Der Ausdruck unterstellt denjenigen, die abgelehnte Asylbewerber rechtlich unterstützen, damit in großem Maßstab Geld verdienen zu wollen.“

● Menschenrechtsfundamentalismus: „zynischer Ausdruck; zeigt, dass es diskutabel geworden zu sein scheint, ob ertrinkende Menschen gerettet werden sollen oder nicht.“

● Ankerzentrum: „Unangemessener Euphemismus, der die komplizierten Prüfverfahren in diesen Zentren und die strikte Aufenthaltspflicht für Flüchtlinge verschleiert.“

Die drei Unwörter sind Neubildungen (Neologismen), die vom allgemeinen Sprachgebrauch nicht übernommen wurden. Insofern war schon ihre Wahl zu viel der Ehre. Bei den Begründungen der Jury fällt der moralische Ton auf:  „unterstellt“, „zynisch“, „verschleiert“. Das Unwort wird als sprachliche Untat gewertet, hinter der ein Täter steht, der dann namentlich genannt wird (obwohl das für eine sprachwissenschaftliche Bewertung gar nicht nötig wäre). Moralisch nüchtern betrachtet hat aber die Jury in diese drei Unwörter einiges hineininterpretiert, was sprachlich und/oder sachlich nicht stimmt.

● Bei 350.000  (dreihundertfünfzigtausend) laufenden Einsprüchen gegen Abschiebungsbescheide wird mit dieser juristischen Dienstleistung selbstverständlich (und rechtmäßig) „Geld verdient“ – das ist keine „Unterstellung“ des Wortes Anti-Abschiebe-Industrie, sondern Tatsache.

● Für die Kritiker am Menschenrechtsfundamentalismus der sogenannten Seenotrettung vor der libyschen Küste steht nicht zur Diskussion, „ob ertrinkende Menschen gerettet werden sollen oder nicht“, sondern warum sie nach der Rettung nicht an Land zurückgebracht werden. Der Ausdruck Seenotrettung blendet aus (die Jury würde sagen „verschleiert“), dass es hier nicht um eine normale Rettung Schiffbrüchiger geht, sondern um Rettung + Asyl, kurz: Seenotrettungsasyl.

● Das Kürzel Ankerzentrum (= Ankunft + Entscheidung + Rückführung) für zentrale Aufnahmestellen von Asylbewerbern stammt aus dem Koalitionsvertrag 2018 von CDU/CSU und SPD. Dass mit diesem bürokratischen Fachbegriff – den die meisten Deutschsprecher nicht richtig verstehen und noch weniger die Asylbewerber – „komplizierte Prüfverfahren“ gemeint sind, stimmt, ist aber normal: Auch hinter einer Einkommensteuererklärung (nebst Anlagen) stecken „komplizierte Prüfverfahren“. Was die Erfinder des Ankerzentrum sich sprachlich gedacht haben, wissen wir nicht; ein beschönigender Ausdruck (Euphemismus) ist es jedenfalls nicht, eher ein politisch überkorrekter.

Für Klima und gegen rechts

Mit dem Unwort 2019 Klimahysterie („pathologisiert pauschal das zunehmende Engagement für den Klimaschutz“) betritt die Jury ein neues Themenfeld, bleibt aber weiter dem Kampf gegen rechts verbunden; denn der AfD-Politiker Gauland hat dieses Unwort verwendet. Das zweitplazierte Unwort Umvolkung setzt das Thema Migration fort, und das drittplazierte Mauerethik für „moralische Bedenken bei der Genforschung“ klingt irgendwie rechts.

Keine Diskussion mehr an Universitäten
Diskriminierungsfreiheit statt Meinungsfreiheit
Der Neologismus Klimahysterie ist seit den 1990er Jahren gelegentlich belegt im Sinne von „übertriebene Aufregung über den Klimawandel“. So schrieb die Zeit (Nr. 19/1992) in einem Artikel über den Treibhauseffekt: „Gleichwohl herrscht geradezu eine Klimahysterie“. Mit der Klimadebatte und Greta stieg die Häufigkeit des Wortes Hysterie in diesem Zusammenhang stark an, sprachlich gesehen ein normaler Vorgang: Einen Satz wie „Was mich stört, ist die Hysterie in der aktuellen Debatte“ (Zeit 1/2017) kann man bei vielen politischen Debatten hören: zum Beispiel beim Thema Migration, von dem die Zeit (17/2017) vor fast vor fast drei Jahren meinte, dass „die allgemeine Hysterie …  etwas abgeflaut ist“. Fazit: Ein starkes Wort ist Klimahysterie nicht; man muss politisch schon übersensibel sein, um eine sprachliche Untat hineinzuinterpretieren.

Das Unwort 2019 Klimahysterie wurde von der Jury aus 671 Einsendungen mit 397 verschiedenen Vorschlägen ausgewählt. Von den rund 70 Millionen Deutschsprechern in Deutschland beteiligten sich an dieser Wahl 0,00095 Prozent.

Unwort – für wen?

Die Unwort-Aktion wendete sich anfangs an alle Deutschsprachigen. Inzwischen gibt es ein eigenes „Unwort des Jahres“ für Österreich (2019: bsoffene Gschicht für die Ibiza-Affäre) und die Schweiz (zuletzt 2016), der Geltungsbereich hat sich also auf Deutschland verengt. Aber haben die Deutschen heute noch eine  g e m e i n s a m e  Öffentlichkeit und öffentliche Sprache? Die viel beklagte „Spaltung“ und „Polarisierung“ der deutschen Gesellschaft muss doch dazu führen, dass die Wahl des Unwortes vom politischen Standpunkt abhängt, und dieser ist bei der Jury eindeutig links-grün. Deshalb dient die Unwort-Aktion nicht mehr sprachlicher Aufklärung, sondern politischen Zwecken. Ein Mitglied der Jury ist übrigens Hauptautor des von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Anti-AfD-Büchleins „Volkes Stimme? Zur Sprache des Rechtspopulismus“ (Bonn 2019).

Unwort und Wissenschaft

Gibt es objektive, sprachwissenschaftliche Kriterien für ein „Unwort“? Grundsätzlich nein; denn der Begriff beruht nicht nur auf sprachlichen Fakten, sondern letztlich deren moralischer Bewertung. Allerdings kann man wissenschaftlich prüfen, ob die Fakten stimmen: Zum Beispiel ist das Unwort Lügenpresse nicht „nationalsozialistisch vorbelastet“ – es sei denn, man hält die deutsche Sprache, die ja auch die Sprache des Nationalsozialismus war, insgesamt für „vorbelastet“. Lügenpresse kommt zwar in der NS-Zeit (1933-45) zur Bezeichnung der ausländischen Presse gelegentlich vor (üblicher waren Hetzpresse und Judenpresse), ist aber vielfach schon vorher belegt und auch nachher: etwa DDR-offiziell für die „Westpresse“ und deren „Lügenmeldungen“ oder bei der 1968er Bewegung für die „Springer-Presse“, besonders die BILD-Zeitung.

Es fällt auf, dass solche faktischen Fehler öfter in den Begründungen für das „Unwort des Jahres“ vorkommen. Das muss kein Zeichen mangelnder linguistischer Kompetenz der vier Germanistikprofessoren der Jury sein: Es geht, medial gesehen,  bei der Wahl eines Unwortes weniger um sprachliche Fakten als um eine gute Geschichte: Das Unwort Lügenpresse verkauft sich „nationalsozialistisch belastet“ besser als ohne NS-Tradition, weil es so die einfache und erwünschte Botschaft „damals nazi, heute nazi“ übermittelt. Die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, wollen lieber „Geschichten“, neudeutsch Narrative, als diskursive Argumente – und die Jury liefert entsprechend.

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Auch eine gute Geschichte ist einmal „auserzählt“. Nächstes Jahr, 2021, wird das „Unwort des Jahres“ zum dreißigsten Mal vergeben. Für die Jury wäre das ein passender Termin, die Aktion zu beenden. Natürlich kann sie weiterlaufen, aber irgendwann läuft sie sich tot, und es wird dann heißen: Die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ hinterlässt eine Lücke, die sie ersetzt.

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