In Berlin klagte ein Vater dagegen, dass die Schule seines Kindes mit den Eltern auf Genderdeutsch kommuniziert, und Lehrer*innen diese Sprachvarietät im Unterricht verwenden. Der Fall zeigt, dass sprachliches Gendern – das vor einigen Jahren noch als „Tick“ galt“ – im Alltag angekommen ist. Wie kam es zu diesem Erfolg?
Das Wort „gendern“ kommt seit den 2000er Jahren in der Zeitungssprache vor, aber
zunächst nur minimal: In den vom Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) ausgewerteten Zeitungen (darunter FAZ, SZ, Zeit, Spiegel, Bild) finden sich erstmals für 2002 drei Belege. Bei diesem minimalen Vorkommen bleibt es bis 2010 (5 Belege), dann steigt die Häufigkeit allmählich bis 2019 (145 Belege) an und schießt dann in die Höhe: 2021 wird das Verb „gendern“ 2501-mal verwendet, was heißt: Gendern ist zum Zeitungsthema geworden.
Beim Gendern geht es darum, die Geschlechtsidentität von Personen sprachlich abzubilden. Das wird oft mit dem Sprachfeminismus verwechselt, ist aber im Geschlechtsbegriff grundverschieden: Der Sprachfeminismus setzt zwei (biologische) Geschlechter voraus; der Sprachgenderismus hingegen ist nicht binär, sondern geht von einer Vielfalt von (sozialen) Geschlechtern aus.
Vom Sprachfeminismus zum Sprachgenderismus
Der Sprachfeminismus entstand in den 1980er Jahren und bekämpfte die „Männersprache Deutsch“, die bei Personenbezeichnungen, insbesondere gemischtgeschlechtlicher Gruppen, die Frau grammatisch „unsichtbar“ mache, nach der Gleichung: 99 Lehrer-innen + 1 Lehr-er = 100 Lehr-er.
In der Tat hat das grammatische Genus Maskulinum im Deutschen (und den anderen indogermanischen Sprachen) bei Personenbezeichnungen eine Doppelfunktion: Es kann sich auf eine männliche Person beziehen (1 Lehrer) oder – vor allem im Plural – geschlechtsindifferent sein (100 Lehrer). Das Femininum hingegen verweist eindeutig auf weibliche Personen (99 Lehrerinnen). Die geschlechterübergreifende (generische) Funktion des Maskulinums wurde von der neuen Frauenbewegung als „frauenfeindlich“ und „patriarchalisch“ bewertet – die klassische Frauenbewegung hatte sich nie daran gestört – und deshalb abzuschaffen versucht: Seit 1985 erschienen zahllose Empfehlungen, Ratgeber und Anleitungen zum „geschlechterneutralen“ oder „geschlechtergerechten“ Sprachgebrauch, die von staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen umgesetzt werden mussten: durchaus mit dem Erfolg, das „generische Maskulinum“ in ihren Texten zu reduzieren – allerdings auf Kosten der Lesbarkeit und Kürze.
Im allgemeinen Sprachgebrauch fand der Sprachfeminismus keinen Anklang, er blieb eine Sondersprache der öffentlichen Verwaltung und bestimmter Textsorten (Prüfungsordnungen, Stellenausschreibungen), die – je länger, desto stärker – zu erstarren drohte. In dieser Situation erging am 10. Oktober 2017 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das den Gesetzgeber verpflichtete, im Personenstandsrecht neben dem Eintrag „weiblich“ bzw. „männlich“ in bestimmten Fällen auch ein „drittes Geschlecht“ – das seit 2019 standesamtlich „divers“ bezeichnet wird – eintragen zu lassen. Damit verlor der Sprachfeminismus, der ja nur die Geschlechter „männlich“ bzw. „weiblich“ kennt, seine argumentative Basis: Es ging nicht mehr um die politische und sprachliche Gleichstellung der Frauen gegenüber den Männern, sondern um die von „Diversen“ gegenüber Frauen + Männern.
Ein Stern geht auf
Wie sollte man das neue, dritte Geschlecht sprachlich ausdrücken? An sich genügte das traditionelle generische Maskulinum: „100 Lehrer“ können durchaus 49 Männer, 49 Frauen und 2 Diverse sein. Diese einfache Lösung war aber durch den Sprachfeminismus versperrt, für den „Lehrer“ nur männliche Personen bezeichnet. Es wurde deshalb ein Sonderzeichen für das dritte Geschlecht erfunden, der Genderstern (100 Lehrer*innen), der gegenüber konkurrierenden Zeichen wie Unterstrich (Lehrer_innen) und Doppelpunkt (Lehrer:innen) bald die Oberhand gewann. Phonetisch wird das Sternchen durch eine kurze Pause vor der Wortendung markiert: Lehrer + stop + innen; im ZDF-heute konnte man es am 5. Januar 2020 zum ersten Mal hören im Satz: „Legen Sie die Prophezeiungen der Expert*innen bitte auf keine Goldwaage“.
Wer sprachfeministisch sagt: „die Prophezeiungen der Expertinnen und Experten“ drückt sich zwar umständlich aus, aber ansonsten normal. Hingegen fällt „Expert*innen“ sprachlich sofort auf, und bei komplizierteren Genderfällen wie „Jede*r ist seines*ihres Glückes Schmied*in“ stellt sich die Frage: Wer redet so?
Wer will den Genderstern und wer nicht?
Zur Akzeptanz des sprachlichen Genderns gibt es zahlreiche Umfragen, die tendenziell zum gleichen Ergebnis kommen: Die große Mehrheit der Deutschen lehnt es ab. Allerdings werden nicht alle Befragten unter dem Wort „gendern“ dasselbe verstehen. Dieses Problem umgeht eine neue, 2021 durchgeführte Untersuchung (Sebastian Jäckle, Politische Vierteljahresschrift Band 63, 3, Seiten 469–497) zur „Akzeptanz des Gendersterns in der deutschen Bevölkerung“ mit folgendem Design:
Die 10.000 Teilnehmer einer Online-Umfrage zur politischen Einstellung verschiedener Generationen wurden zunächst nur gefragt, ob sie den Fragebogen in einer Fassung mit Genderstern wünschten oder standardmäßig (mit generischen Maskulinum). Ergebnis: 21 Prozent wollten den Fragebogen mit Genderstern, 75 Prozent lehnten dies ab, 4 Prozent trafen keine Wahl.
Welche Faktoren beeinflussten diese Wahl? Zunächst das Geschlecht: Frauen bevorzugten zu 27 Prozent die Genderstern-Version, Männer nur zu 16 Prozent; dann das Alter: unter den 14- bis 30-jährigen Teilnehmern waren 38 Prozent dafür. Nach der Parteienpräferenz ergaben sich folgende Werte für den Stern: GRÜNE 45 Prozent, LINKE 35 Prozent, SPD 25 Prozent; CDU/CSU, FDP und AfD 5 bis 10 Prozent. Die geringste Zustimmung (unter 5 Prozent) findet der Genderstern bei den Nichtwählern: Der Sprachgenderismus, der ja „inklusiv“ sein will, schließt also faktisch gerade die Schichten aus, deren politische Partizipation ohnehin schwach ist.
Der „erklärungsmächtigste Faktor“ für die Akzeptanz des Gendersterns ist allerdings nicht die Parteipräferenz, sondern eine politische Grundeinstellung: „Je stärker die Befürwortung staatlicher Eingriffe und Vorgaben ist“, desto wahrscheinlicher wird die Befürwortung des Gendersterns.
Corona macht’s möglich
Die Coronazeit (2020 bis 2022) war eine Zeit massiver staatlicher Eingriffe in den Lebensalltag, und genau in dieser Zeit machte der Genderstern Karriere: Am 22. November 2020 beschlossen die Grünen ein neues Parteiprogramm, das durchgängig mit dem Stern gendert. Im vorpolitischen Raum breitete sich der Stern aus: In Programmheften der Volkshochschulen („Italienisch für Anfänger*innen“), auf Schrifttafeln der Museen, in Verlagsprospekten, bei der öffentlichen Kommunikation von Deutscher Bahn, Lufthansa und Kirchen. Gendern wurde zum Gesinnungs- und Bekenntnissymbol nach dem Grundsatz: „Mit Gendern die Welt zum Guten ändern!“
Trotz der Erfolge der Genderbewegung ist im deutschsprachigen Alltag das „Virus“ generisches Maskulinum noch allgegenwärtig. Wäre es deshalb nach den Erfahrungen der Coronazeit mit der positiven Akzeptanz staatlicher „Maßnahmen“ nun politisch nicht naheliegend, für die Schulen den Genderstern – sozusagen als sprachliche Impfung – zur Pflicht zu machen?