Spätestens seit der Finanz- und Eurokrise hat der Bundestag eine unrühmliche Entwicklung genommen. Legendär sind bis heute die mehrere Hundert Seiten umfassenden Kataloge zur Griechenlandhilfe, die die Bundestagsabgeordneten wenige Tage vor der Abstimmung auf den Tisch gedonnert bekamen. Transparenz, selbstbestimmtes Abgeordnetenmandat – wie soll ein Mensch über ein Gesetz entscheiden, das er gar nicht durchdringen kann?
Fünf wichtige Entscheidungen an einem einzigen Tag
Allein am heutigen Donnerstag legt die Bundesregierung gleich mehrere wichtige Gesetzesanträge vor, über die der Bundestag in einem Hau-Ruck-Verfahren bestimmen muss:
Ab 12:35 steht das Corona-Steuerhilfegesetz auf der Tagesordnung; die darin angedachten Bestimmungen ziehen Steuerausfälle in Milliardenhöhe nach sich. Ab 16:35 will das Parlament über die Änderung des Sozialgesetzbuches entscheiden, es geht um die Aussetzung von Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose und die Vorbereitung des von der SPD angedachten Bürgergeldes.
In der Nacht, ab 21:05 Uhr, wird das „Neun-Euro-Ticket“ diskutiert und anschließend verabschiedet. Um 22:05 Uhr beginnt die Debatte zum „Energiesteuersenkungsgesetz“, das für niedrigere Preise an den Tankstellen sorgen soll. Und eine Stunde später folgt der Antrag, der den Bau von LNG-Terminals beschleunigen soll, um von russischen Erdgaslieferungen unabhängig zu werden. Als erster Tagesordnungspunkt stand am Morgen eine Regierungserklärung des Kanzlers auf dem Programm; und während das Bundesverfassungsgericht heute nochmals die einrichtungsbezogene Impfpflicht als rechtmäßig bekräftigte, will die Bundesregierung heute neuerlich einen „Pflegebonus“ verabschieden.
Man könnte freundlich von einem „Marathon“ sprechen. Doch Tage wie diese verdeutlichen die Degeneration des Plenums hin zu einer etwas zu groß geratenen Beamtenstube. Die Parlamentarier malen ihren Job mit den rhetorischen Floskeln des „Streitens“ um eine gute Idee oder „faire Kompromisse“ in glänzenden Farben an und sprechen von demokratischen Prozessen – für die es aber angesichts der reinen Masse an Gesetzestexten gar keine Zeit gibt.
Seit der Corona-Krise hat das Parlament nicht mehr in den Normalmodus gefunden
Seine verheerendste Verirrung hat der Bundestag in der Corona-Krise erlebt. Die Maßnahmen sahen vor, dass nur noch ein Viertel der Abgeordneten notwendig für einen Beschluss sei. Debatten wurden verkürzt, mit dem Ziel, weniger Tagesordnungspunkte zu ermöglichen und damit Kontakte zu vermeiden. In Wirklichkeit diente es dazu, nahezu alle Tagesordnungspunkte auf eine Debattenzeit von 30 oder weniger Minuten zu beschränken. Der Notfall legitimierte das schnelle Durchwinken – auch von Gesetzen, die gar nichts mit Corona zu tun hatten.
Doch schon im Jahr vor Corona zeigte die Degradierung des Parlaments zum Abnickverein der Bundesregierung ihre Folgen. 2019 kollabierten gleich zwei MdBs im Bundestag. Schon zu dieser Zeit waren Tagesordnungen bis um 3 Uhr morgens nichts Ungewöhnliches; denn auch die meisten Pläne halten nicht stand, weil es immer wieder zu Verzögerungen und Sitzungsunterbrechungen kommt. Wenn eine Tagesordnung offiziell um Mitternacht enden soll, kann man sich eher auf 2 Uhr morgens einstellen. Irgendwann werden Reden nur noch abgebeben und protokollarisch vermerkt.
Da der Leviathan jedoch immer mehr Kontrolle ausübt, immer tiefer in die verschiedensten Bereiche des Lebens eindringt und zugleich technologisch und gesellschaftlich mit Themenfeldern neuer Art konfrontiert wird, für die immer wieder neue Gesetze verabschiedet werden müssen, steigt die Zahl der Tagesordnungspunkte weiter an. Die einzige Lösung: mehr Debatten in kürzerer Zeit sowie die Zusammenlegung von wichtigen Gesetzesverabschiedungen an einem Tag.
In der Bonner Republik hätte ein Thema allein die Woche geprägt
In der Bonner Republik wäre die Sanktionsänderung für Langzeitarbeitslose ein Wochenthema gewesen und das wichtigste Gesetz, das an einem Donnerstag oder Freitag besprochen worden wäre. Heute rangiert es als eines unter vielen. Die Debatte um die allgemeine Impfpflicht ist deswegen so bedeutsam, weil sie für kurze Zeit den eigentlichen parlamentarischen Betrieb zeigte, wie er normalerweise ablaufen sollte.
In der Theorie lebt der Parlamentarismus vom freien und selbstbestimmten Mandatsträger, der im besten Wissen und Gewissen seine Entscheidung über ein Gesetz fällen kann. Die tatsächlichen Umstände lassen aber ein solches Wirken gar nicht mehr zu. Kein Abgeordneter kann Experte für alles sein. Wer dagegen die Papierstapel kennt, die tagtäglich ein MdB-Büro erreichen, weiß, dass man mit Ungetümen ringt.
Die Installation von Ausschüssen hat daher einen Delegierungscharakter. Abgeordnete aus einem speziellen Fachbereich konzentrieren sich auf ein Ressort. Das führt jedoch automatisch zu Hierarchien, Eliten und bestimmendem Personal, dem man bei den Abstimmungen folgt. Die internen Mechaniken einer Fraktion ähneln damit gesamtgesellschaftlichen Trends. Die „da oben“ – im Bundestag: die „da vorne“ mit der Karte – wissen schon, was sie tun.
Abgeordnete können die schiere Masse an Gesetzen kaum bewältigen
Damit trägt der repräsentative Parlamentarismus – ähnlich wie die Gesellschaft, mit der er verquickt ist – ein Wurzelproblem in sich. Die parlamentarische Demokratie lebt von den liberalen Idealen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese liberalen Ideale entsprangen jedoch einer vorindustriellen, frühneuzeitlichen Welt, in der sich Persönlichkeiten noch einander kannten und die Zahl der Entscheidungen überschaubar war. Die Herausforderungen der Massengesellschaft – wie Anonymisierung und Bürokratisierung – sind ihr unbekannt.
Das führt zum bekannten Widerspruch zwischen den postmodernen Anforderungen an überkommene Strukturen. Es ergibt sich die Herausforderung, die eigentlichen Abgeordnetenaufgaben zu erfüllen, aber zugleich mit den deutlich gewachsenen Anforderungen klarzukommen. Das Funktionärswesen ist damit angelegt; das Individuum, das im Liberalismus überhöht wird, ist schlicht überfordert. Das aus der Not entstandene Instrument überwältigt das System.
Zwei Beispiele untermauern die Mutation des Parlamentarismus zum Funktionärswesen, und sie sind für jeden außerhalb des Politikbetriebs offensichtlich. Auf der einen Seite steht die Belanglosigkeit der Reden; auf der anderen Seite die Abwesenheit der Mandatsträger im Plenum. Wer in der Woche 30 oder mehr Tagesordnungspunkte „abarbeiten“ muss, der muss sich seine feste Meinung vor der Abstimmung bilden und nicht während der Debatte; die Partei erlaubt es zudem, einfach den restlichen Kollegen zu folgen, ohne dass eine Gewissensprüfung erfolgt.
Die Wertlosigkeit von Reden und die Abwesenheit der Mandatsträger als Symptom der parlamentarischen Krise
Die Rede, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert ein Überzeugungsmittel, verkommt zur reinen Deklaration. Da sie ihre ursprüngliche Rolle nicht mehr erfüllen muss, wird sie zur Propaganda, zur Zurschaustellung von Haltung und Moral, zum Ich-bezogenen (oder höchstens: fraktionsbezogenen) Geschwätz, in dem nicht das Argument, sondern der oberflächliche Effekt zählt. An „die Menschen im Land“, wie eine häufige Floskel suggeriert, sind diese sowieso nicht mehr gerichtet.
Auch aus diesem Grund ist der Besuch der ersten und zweiten Lesung ähnlich wie eine Universitätsvorlesung keine Pflichtveranstaltung. Der Zeitplan des Abgeordneten setzt Prioritäten, die nun höher stehen als das Kerngeschäft. Selbst bei den Abstimmungen gilt es für die Fraktionen meistens nur, die Mindestzahl für einen gesetzesfähigen Beschluss zusammenzubringen. Damit degeneriert jedoch der gesamte parlamentarische Vorgang zur reinen Verwaltungsangelegenheit, die erledigt werden muss. Das Ergebnis einer Abstimmung im Plenum ist, so diese nicht „frei“ gegeben wird, spätestens in der letzten Ausschusssitzung davor bekannt.
Max Webers „stahlhartes Gehäuse“ gilt für den Bürger wie für Journalisten und Politiker
Der heutige Tag ist daher ein Exempel. Nicht nur die Abgeordneten kommen nicht mehr nach; auch die Medien haben es schwer, angesichts der Fülle an Entwicklungen jedes Thema zu belichten, das im Bundestag besprochen wird. Ähnlich wie für den Abgeordneten ist es auch für den Journalisten nicht mehr leistbar, alle Themen und ihre Hintergründe zu bearbeiten, zu untersuchen und zu begreifen.
Für den Bürger, der als eigentlicher Souverän für die Wahl der Abgeordneten verantwortlich ist, stellt sich umso mehr das Problem: Ihm bleibt politisch wie medial verschlossen, was in aller Eile im Bundestag geschieht – und was es bedeutet. Der politisch-mediale Betrieb erfüllt damit mehr denn je die Formel Max Webers eines „stahlharten Gehäuses der Hörigkeit“. Es hat menschliche Freiheit und menschliches Handeln ersetzt.