Eine Kiste voller Bücher der Suhrkamp-Reihe. Der bunten. Daneben eine Kiste mit Reclam-Heften. DTV, Fischer – alle sind sie da. Nebeneinander und (fast) geschenkt. Jedes Buch gibt es für einen Euro. Bei den Reclam-Heften geht der Händler am Schöneberger Rathaus von sich aus auf 50 Cent runter. Ein paar hundert Meter weiter in der Crellestraße kämpft eine Frau indes um den Preis: Sie will 1,50 Euro für die Lebensgeschichte der Christiane F. vom Bahnhof Zoo haben. Der Band ist so zerfleddert wie der Lebensweg der Autorin.
Die Preise für gebrauchte Datenträger sind eingebrochen. Das gilt für Bücher – aber noch viel mehr für DVDs und CDs. Der Flohmarkt am Schöneberger Rathaus ist voll mit Kisten, in denen es vor Rohlingen nur so wimmelt. Keine Kratzer. Gut erhalten. Auch die Hüllen sind schadlos überliefert. Meist sogar die Begleithefte. Die Neupreise lagen früher bei 15 Euro. Aufwärts, bis hin zu 30 Euro. Sogar mehr als 30 Euro, wenn es sich nicht um einen Film, sondern um die Staffel einer Serie handelte.
Jetzt ist die Zeit für einen Kauf. Nicht allein wegen des Preissturzes. Es ist auch ein Stück Gedächtnis, das die Flohmärkte für schmales Geld anbieten. DVDs sind altmodisch, gelten als überholt, Sony Entertainment hat das Ende des DVD-Vertriebs angekündigt – die Streaming-Dienste haben gewonnen. Aber die Konsumenten werden zahlen. Nicht nur monatliches Geld. Sondern mit Inhalten. Die Sitcom „Community“ wurde zum Beispiel Opfer. Eine Folge wurde rausgeschmissen, weil sich eine Figur für ein Rollenspiel das Gesicht angemalt hat. Das ist Blackfacing und erweckt in 1965 geborenen Schwarzen das Trauma, wie sie vor 1865 in Sklaverei gepresst wurden. Deswegen ist die Folge schon mal raus. Auf der Erde leben acht Milliarden Menschen, wenn jeder drei Befindlichkeiten hat, gibt es 24 Milliarden Gründe, Werke zu zensieren.
Zum Beispiel die Serie Scrubs. Staffel zwei. Erstanden für 2 Euro auf dem Flohmarkt am Schöneberger Rathaus. Steht jetzt im Regal. Wenn sie sich aber ein Woker ansieht, könnte sie aus Streaming-Diensten verschwinden und vom TV-Schirm gebannt werden. Auf dem Rohling bleibt die Figur des Chirurgen „Der Todd“ erhalten. Obwohl er nach heutigen Maßstäben eigentlich nicht mehr vorzeigbar ist: 2002 hängt die junge Ärztin Elliot Reid eine Wohnungs-Annonce aus. Der Obermacho Todd sichert sich die Telefonnummer und nutzt sie für sexuelle Belästigungsanrufe. Und das geht so weiter. Auf einer einzigen DVD der Staffel hat Reid gleich zwei Fantasien davon, wie sie vor Männern strippt. Dr. Cox gibt seinem männlichen Schützling Mädchenvornamen, um ihn als Person herabzuwürdigen. Entdecken das Woke, dauert die pädagogische Nachbesprechung länger als zwei Folgen. Und da wäre noch nicht einmal behandelt, für was Cox im Amerikanischen ein Synonym ist.
Scrubs ist eine nette Serie. Die Hauptfigur des Dr. Dorian ist übersensibel. Das führt dazu, dass er sich als Arzt mehr engagiert, als einem Menschen im echten Leben gut täte. Aber eigentlich ist das eine positive Aussage: Gib dir mehr Mühe als notwendig, schätze andere Menschen. Doch genau darin liegt die Crux im woken Bildersturm. Umso näher ein Buch, ein Film oder eine Serie dem Geschmack der Woken kommt, desto größer ist die Gefahr, dass sie darin einen der 24 Milliarden Gründe finden, ihre Gefühle verletzt zu sehen. ZDF Neo zum Beispiel wiederholt permanent die sexistischen Filme mit Mike Krüger und Thomas Gottschalk. Aber das zieht keinen Shitstorm nach sich. Ist ja auch logisch: Diese Angebote von ZDF Neo schaut kein Mensch unter 80 Jahren.
Auf den Flohmärkten gibt es Pippi noch. Und ihr Vater ist weiterhin N-König. Wobei das nicht deshalb problematisch ist, weil er Monarch in einem nationalsozialistischen System wäre. Sondern weil er Menschen anführt, die so heute nicht mehr genannt werden dürfen. Es ist schwer, die beiden N-Wörter auseinanderzuhalten – aber sie auszuschreiben, darf sich um Himmels, sorry H-Wort Willen, niemand mehr wagen. Netzsperren wären die Folgen. Auf dem Flohmarkt gibt es das nicht. Da ist in den Büchern noch eine Sprache geschrieben, die man versteht – und sind Filme zu sehen, die man sehen will, weil Dr. Cox letztlich eine sympathische Figur ist, der Todd zwar vielleicht schon 2002 unerträglich war – aber doch halt auch sehr lustig.
In Ray Bradburys Dystopie „Fahrenheit 451“ sind Bücher verboten. Auch umgeschriebene. Wer sie besitzt, den besucht die Feuerwehr und verbrennt die Bücher. Zum Schutz der Empfindlichkeiten von Minderheiten. Die Menschen wehren sich. Sie lernen die Werke auswendig und ziehen sich in die Wälder zurück, um dort die menschliche Zivilisation zu bewahren. So weit sind wir nicht. Noch nicht. Irgendwann schon, wenn wir die Woken machen lassen.
Auf dem Flohmarkt im saarländischen Neunkirchen etwa sind Bücher die Ausnahme. Sind mal welche drunter, ist es meist das, was der Bertelsmann-Buchclub einem früher im Gegenzug zu einem Werbegeschenk als Kauf aufgenötigt hat. Auf dem Büchermarkt der Mainzer Johannisnacht ist die Auswahl dagegen Weltklasse – dafür ist es dort viel schwerer, die Händler auf 1 oder 2 Euro runterzuhandeln. Sie können in der akademisch geprägten Stadt mit einem kaufkräftigeren Publikum rechnen als in der alten Arbeiterstadt.
In Berlin sind noch viele Bücher aus dem Aufbau-Verlag im Umlauf. Die Geschichte der Operette ist schön dargestellt – über die darin enthaltene Berücksichtigung des Aspekts des Klassenkampfes kann jeder entweder hinweglesen. Oder sie lustig finden. Kostet ja nur einen Euro und endlich wird das Rätsel gelöst, warum die lustige Witwe die Interessen der Bourgeoisie vertritt.
In der Hauptstadt reichen schon ein paar hundert Meter, um einen Unterschied zu machen. Der Händler am Schöneberger Rathaus ist Realist und schätzt seine Kundschaft dort richtig ein. In der Crellestraße sind es Akademiker, die sich aus dem Verkaufen einen Spaß machen. Da orientiert sich der Preis dann nicht an der Realität, sondern an der Wertschätzung, die man für sich und seine Kindheitserinnerung hegt. Folglich kostet die zerfledderte Christiane F. dann gegen den Trend 1,50 Euro. Neben der Händlerin sitzt aber ein Mädchen, das Freude hat. Am Flohmarkt und am Geld zählen. Also zahlen wir die 1,50 Euro – auch wenn sie überteuert sind. Immerhin ermutigt das einen Rebellen hinter den Reihen.