Tichys Einblick
Die neuen Pharisäer

Empörung statt Aufrichtigkeit

Zuerst hat niemand etwas gemerkt, dann haben es alle gewusst und nun verwandeln sich jene, die genau so waren, in oberste Verkünder von Normen, an die sich selbst nie hielten.

German director and Jury member Dieter Wedel (R) attends the Shocking Shorts Award at former Tivoli power station on July 3, 2012 in Munich, Germany. The Shocking Shorts Award, hosted by pay TV channel 13th Street Universal, is inherent part of the annual Munich film festival. The first prize for the best movie short includes the participation in Universal Studios filmmasters program in Los Angeles

© Johannes SImon/Getty Images

Die höchst nachhaltigsten Skandale, die uns in den Medien präsentiert werden, sind nicht etwa die der Gier in Wirtschaft und Politik, sondern dienen der Moral und der moralischen Empörung. Diese zelebrierte uns die einst ehrwürdige Zeitung „Die Zeit“, wo man selbst die schrillste Obszönität in den Greisentonfall von Würdenträgern zu verwandeln versteht.

Die Abkassierten hinter die Fichte geführt
Schlechtes Handwerk oder schlechter Stil?
Das aus der Mode gekommene, müde gewordene, bei vielen aber immer noch als hochseriös geltende Blatt die ZEIT entpuppt sich in diesen Tagen als moralische Anstalt. Die Staatsbühnen, der Frivolität bislang nie abhold, werden ihr folgen und künftig womöglich die vielen Nacktszenen in den klassischsten Stücken ganz streichen müssen. Die Filmbranche sprang in Gestalt des moralinen Oberschwaflers Till Schweiger bereits in die neue belebte Marktlücke einer sicher etwas zweispurigen Moral. Er ist der Falsche für Empörung. Am Set muss die Sauberkeit wieder Einzug halten, hieß es, auch bei Lanz, aber was heißt wieder? Ein Denkfehler? Oh je. Nicht nur Merkel, auch Dieter Wedel muss weg. Der einst als Genie gerühmte Fernsehregisseur soll zahlreiche Frauen so sehr sexuell bedrängt haben, dass einige der Frauen nicht mehr zögern, ihn des Verbrechens der Vergewaltigung öffentlich anzuklagen.

Damals zur Hochzeit seines Ruhms will niemand etwas bemerkt haben, dabei machte er als Womanizer immer ganz deutliche und auch sehr anzügliche Sprüche. Auch die Tatsache, dass viele der Models und Sternchen zu ihm drängten und sich gerne gebrauchen ließen für ihr erhofftes, besseres Fortkommen, verblasst natürlich ganz, angesichts der Untaten und Flüche, die dem mächtigen Kraftprotz jetzt ins Gesicht geschleudert werden. Er wurde darob spontan krank und zog sich in eine Klinik zurück, wo er das Ende der Hexenjagd, wie er sagte, zu überstehen hofft. Das ist natürlich enttäuschend, wo nicht sogar unmännlich, denn zu Wedel mag alles passen: das Geniale, der Teufelskerl, der Verbrecher, nur den Unschuldsengel, den sollte er uns ersparen. Das verdient Empörung.

Die alte Devise: man muss den Weibern imponieren, dann kriegt man sie schon zu allem möglicher herum, war doch gar nie zu überhören. Und wer damals noch lesen konnte, las es zwischen den Zeilen, wie er sich selbst rühmte als Zuchtmeister und Dompteur der süßen Filmsternchen. Das veranlasste damals niemand zu Empörung.

Die Zeitenwende spaltet auch des Pudels Kern

Mehr Maß bitte
Die Sexismus-Debatte gerät zur Farce
Man fand das schick damals und jetzt hat sich der Zeitwind so sehr gedreht, dass wir womöglich die besten Filme in den Müll werfen müssen. Nicht nur Wedels, auch Polanskis, Woodys, ja die klassischen Hitchcockfilme sogar. Der alte Meister hat sich, wie die ZEIT recherchierte, sogar in Anwesenheit seiner Frau als übles Sexmonster am Set benommen. Ein Frauenquäler war er, keine Bohne besser als Wedel, eher schlimmer noch und auch Woody und Polanski , die einige schwere Sexsünden auf den Kerbholz haben, müssen möglicherweise von ihren Sockeln gestürzt werden, wie einst der mörderische Saddam.

Auch Picasso, auch Brecht mein Gott, wie rücksichtslos verfuhr der politische Moralist B.B. Nicht schon mit seinen Frauen? Aber was noch viel schwerer wiegt, was geschieht mit unserer Hochkunst? Vielleicht wird man nochmal vor einer neuen Bücherverbrennung zurückschrecken und zu einem Kompromiss zurückfinden, der besagt : auch die reinsten, schönsten Werke der Kunst wurden oft schon durch schweinische Naturen zur Welt gebracht. Aber dafür muss noch eine lange Zeit vergehen, ist zu fürchten, denn jetzt sind erst mal wieder die züchtigen Frauen dran, die allen Männern neue mores lehren, wie sie das in dem heute rückblickend schier drollig erscheinenden Sexskandal mit dem frivolen Herrn Brüderle schon begonnen haben. Dabei hatte der Brüderle doch nur einen Alt-Herrenwitz über ein prall gefülltes Dirndl reißen wollen. Sicher geschmacklos und wie verstaubt aus alter Zeit, aber doch harmlos.

Dennoch traten damals neben der gerechten Tadlerin Alice Schwarzer sogar ein Literaturkritiker wie Karasek und ein Chefredakteur auf, um ihren hoch-ethischen Ekel in feuilletonistisches Glanzpapier zu packen.

Was soll uns der neue Tugendwahn wohl verbergen?

Pharisäer
Hollywood: Kultur des Verdrängens
Jetzt ist wieder die Hochzeit für die obersten Priesterinnen angebrochen, die neue Regeln aufstellen werden, darüber, was als anständiger Verführungsversuch noch gelten kann und wo die Männerverbrechen ganz klar beginnen. Bis zu Videoschiedsrichtern wie im Fußball, die bis ins Schlafzimmer hinein wirken, wird es m.E. nicht kommen, weil doch jeder wissen kann wie in den Nebenräumen und im Nebel-Hintergrund der Mediengesellschaft überall schon ein ganz anderer Ton des sogenannter dirty talk laut wird und sich steigender Popularität erfreut, übrigens auch bei vielen Frauen. Ohne Empörung?

Wim Setzer ist Kunstkritiker und Journalist.

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