Tichys Einblick
Katholische Kirche in Deutschland

Ein wankendes Kartenhaus

Der Missbrauch in der katholischen Kirche schien abgehakt. In Wirklichkeit beginnt die Aufklärung erst. Aus der Missbrauchskrise wird eine Bischofskrise.

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing

IMAGO / epd

Für die katholische Kirche in Deutschland neigt sich eine weitere unangenehme Woche dem Ende entgegen. Fronleichnam, das katholischste Fest des Kirchenjahres, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Funktionären wie Geistlichen die Luft dünn wird in der immer noch nicht aufgearbeiteten Causa des Missbrauchs.

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Der renommierte Staatsrechtler Josef Isensee fasste die prekäre Lage konzise gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur KNA zusammen. Die Kirche könne „viel vom Rechtsstaat lernen“. Die „sklerosierte Kirche“ müsse sich wieder auf Augustinus und Thomas von Aquin besinnen, ihre „Pädagogik üben“ und als Mittlerin wirken. Die „Krise der Kirche“ fasst Isensee so zusammen:

„Die katholische Kirche ist im Moment auf dem Tiefpunkt ihres gesellschaftlichen Ansehens, weil sie ihrerseits zutiefst gegen das neue Naturrecht der Menschenrechte gesündigt hat. Und zwar hat sie mit der Anwendung ihrer starren Moraltheologie und ihres unzulänglichen Kirchenrechtes systemisch versagt. Die Perspektive kirchlicher Macht ignorierte die Opfer des Missbrauchs. Die Verurteilung des Missbrauchs Abhängiger hat sich gesellschaftlich durchgesetzt, aber das hat die Kirche mit ungeheurer Verspätung erkannt. Sie muss sich den moralischen Vorwurf gefallen lassen, dass sie das Opfer kirchlicher Macht schutzlos gestellt hat. Das ist auch der Grund, dass sich die Missbrauchsaffäre inzwischen in eine Bischofskrise verwandelt hat.“

Die Wandlung der Missbrauchskrise zur Bischofskrise erlebt derzeit fast täglich ein neues Kapitel. Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki steht weiterhin unter Druck. Papst Franziskus hat erst in einem Interview davon gesprochen, er halte dessen Rücktrittsgesuch „in der Hand“. Das heißt: Der Pontifex hat Woelki und dessen Schicksal in der Hand, und wie es typisch für den machtbewussten Argentinier ist, lässt er seine Untergebenen nicht wissen, was er mit ihnen vorhat. Womöglich macht es Franziskus von der weiteren Entwicklung in Deutschland abhängig.

Die Täter waren und sind in allen Reihen

Aber auch der gefühlte Gegenpol zu Woelki, nämlich der Limburger Bischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hat in den letzten Wochen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Da ist zum einen die Geschichte um einen Priester, gegen den Belästigungsvorwürfe erhoben werden – und den er zum Bezirksdekan im Westerwald beförderte. Zum anderen droht ihm die Causa des Domkapitulars Christof May auf die Füße zu fallen. Der beging unter dem Eindruck der Vorwürfe wegen sexueller Belästigung vor wenigen Tagen Selbstmord. Bätzing hatte mit dem Leiter der Priesterausbildung im Bistum erst tags zuvor gesprochen und ihn danach von allen Ämtern freigestellt. May galt als „Reformer“, setzte sich für die Frauenweihe und die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ein.

Damit wird auch Außenstehenden klar, dass die jahrelang nach außen getragene Prämisse, es gäbe ein konservatives, bremsendes Lager, dass die Täter schützen wolle, und ein reformerisches, aufbrechendes Lager, dass die Kirche ändern wolle, in sich zusammenbricht. Die Täter waren und sind in allen Reihen. Die Vorgänge entzaubern auch den Synodalen Weg, der angetreten war, um eine neue Zeit in der Kirche einzuläuten und den Missbrauch in Zukunft zu verhindern. In Wirklichkeit handelte es sich um jenen „Missbrauch des Missbrauchs“, der Projekte wie Frauendiakonat, Homosexuellensegen und Ende des Zölibats voranbringen sollte, um sich Zeitgeist, Verbänden und Politik anzubiedern.

Der Katholikentag offenbarte das Desinteresse an Kirche und Reform

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Wie wenig Interesse die Gesellschaft an dieser ganzen Veranstaltung hat, zeigt der Katholikentag, der von einer einstigen Massenveranstaltung zu einem Eliten- und Funktionärstreffen geworden ist, das größtenteils um sich selbst kreist. Selbst die Laien im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) dürfte langsam dämmern, dass man seine eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, arbeitet man weiter mit Bätzing und vielen „reformerischen“ Bischöfen zusammen, die offenbar den Synodalen Weg zur Reinwaschung ihrer eigenen Sünden nutzen. Selbst bei den Laien des Synodalen Weges muss sich da Resignation breitmachen – insbesondere, weil die geringe Besucherzahl zeigt, dass sich kaum noch jemand für die Reform im Speziellen und die Kirche im Allgemeinen zu interessieren scheint.

Neuerlich hat Franziskus mahnende Worte an Deutschland gerichtet. „In Deutschland gibt es eine sehr gute evangelische Kirche. Wir brauchen nicht zwei davon“, sagte er gegenüber La Civiltà Cattolica. Die Idee des Synodalen Weges entspringe den Köpfen von Theologen und Intellektuellen, der Prozess sei damit losgelöst vom Kirchenvolk. Der Pontifex legt damit den Finger in die Wunde: nicht die Missbrauchsaufarbeitung und die Bedürfnisse der immer orientierungsloseren Gläubigen stehen im Mittelpunkt, sondern die Befindlichkeiten einer Funktionärskirche samt Beraterstab, die den Kontakt zum kleinen Gläubigen verloren haben. Ein Phänomen, das nicht nur die Kirche heute bestimmt.

Franziskus: Kirche in Deutschland vom Kirchenvolk abgehoben

Das neue Gutachten in Münster hat kürzlich wieder gezeigt, wie viel noch der Aufdeckung harrt. Freilich: Teils geht es in diesem auch schwammig zu, etwa über ein Dunkelfeld spekuliert, das ins Acht- bis Zehnfache reichen soll, und selbst „schwere verbale Attacken“ in die Kategorie von Missbrauch und Belästigung einfügt. Prägend treten wenige, dafür umso aggressivere Intensivtäter auf, die im Bistum ihr Unwesen trieben und denen trotz ihrer schweren Verbrechen nicht genügend Einhalt geboten wird. Zugleich fällt den Gutachtern auch nichts Besseres ein, als sich an die kirchenpolitische Agenda des Synodalen Weges zu ketten oder zu behaupten, dass die Jahre der „sexuellen Befreiung“ in den 1960ern keine Auswirkungen auf den Missbrauch gehabt hätten.

Doch auch anderswo knirscht es im Gebälk. Der Erzbischof von Paderborn, Hans-Josef Becker, hat vor wenigen Tagen den Rücktritt eingereicht. Spekulationen mehren sich, das habe mit dem bald erscheinenden Missbrauchsgutachten für sein Bistum zu tun. Ein weiteres Missbrauchsgutachten steht dem Bistum Trier bevor – und damit für die Amtszeit der Bischöfe Stephan Ackermann und Reinhard Marx. Bätzing war überdies Generalvikar in Trier, bevor er zum Bischof von Limburg aufstieg. Auch das Verfahren zwischen der Bild-Zeitung und Woelki ist noch nicht beendet. Bild hatte Woelki schwere Verfehlungen in der Missbrauchsaufklärung vorgeworfen und eine „Vertuschungsmafia im Erzbistum“ angeprangert. Woelki hat in der Auseinandersetzung bisher zweimal Recht bekommen und einmal verloren.

Die homosexuellen Seilschaften als Vertuschungsfaktor will niemand thematisieren

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Was ergibt sich aus diesem Kaleidoskop von Inkompetenz, Unwillen, Vertuschung, Verfehlung und um ihre Posten bangenden Prälaten? Zuerst der Elefant im Raum: Es gibt immer noch keine Diskussion um die offensichtlich homosexuellen Seilschaften innerhalb der Kirche, die in der Vertuschung wie in der Durchführung des Missbrauchs eine zentrale Rolle spielen, aber angesichts der zelebrierten Öffnung Richtung Wokeness alles andere als gelegen kommen.

Hätte man früher in der katholischen Kirche der Doktrin und des Ansehens wegen nicht darüber gesprochen, so geschieht es offenbar heute, um diese nicht unbedeutende Kaste innerhalb des Klerus – die ideologisch konservativ wie reformerisch vertreten ist – zu schonen. Dass Markus Fuhrmann, der neue Provinzial des Franziskaner-Ordens sich öffentlich „geoutet“ hat, gilt mittlerweile wie in den Medien als „mutiges Zeichen“. Stattdessen müsse sich nun die Lehre ändern. Ähnlich ist die Anwesenheit des Essener Weihbischofs Ludger Schepers bei einer Segnung gleichgeschlechtlicher Paare einzuordnen.

Wie hoch diese Seilschaften reichen, zeigt sich am Beispiel des kürzlich verstorbenen Kurienkardinals und langjährigen Kardinalsstaatssekretärs Angelo Sodano, der über Jahrzehnte als „Graue Eminenz“ im Vatikan fungierte. Sodano war maßgeblich an der Vertuschung der Verbrechen des Begründers der Legionäre Christi, Marcial Maciel Degollado, beteiligt. Marcial Maciel hatte sich an Minderjährigen vergangen. Sodano indes wurde nach seinem Tod von Frédéric Martel „geoutet“, der über die homosexuellen Connections im Vatikan geschrieben hatte; in seinem Buch trägt Sodano das Pseudonym „Montgolfiera“.

Man muss der Kirche den Zerfall des Kartenhauses wünschen

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Zum anderen entpuppen sich die vermeintlichen Anstrengungen einiger Bischöfe als Verzögerungsmanöver. Umso mehr drohen ihnen diese nun auf die Füße zu fallen. Die Idee, mit dem Synodalen Weg die eigentliche Missbrauchsaufklärung zu vernebeln, wurde zwar schon vorher durchschaut. Dass aber nun auch dieser Reformprozess an sein Ende gelangt, bedeutet ein Ende des Täuschungsmanövers und ein Wegbrechen der letzten Unterstützer. Dass der Generalvikar von Speyer, Andreas Sturm, offen zu den Altkatholiken wechselt, bedeutet, dass auch die in hohen Positionen angekommenen Reformer, die längst eine völlig andere Lehre als römisch-katholische verinnerlicht haben, keine Möglichkeit der Änderung mehr im eigenen Haus sehen.

Dass dieses Geschacher dem gesamten Ansehen der katholischen Kirche in Deutschland abträglich ist, wo dieses sowieso schon auf einem historischen Tiefststand liegt, bedarf keiner Erklärung. Dass wir demnach bald über Rücktritte und Enthebungen statt über Gutachten sprechen werden – ebenfalls. Das in den letzten Jahren mühsam zusammengehaltene Kartenhaus wankt. Vielleicht muss man dessen Zerfall sogar der katholischen Kirche in Deutschland wünschen, um jene reinigende Wende zu einer Kirche der Wenigen und Heiligen zurückzufinden. Der Ballast der Welt hat die Kirche genügend bedrückt. Wenn die Kirche in Deutschland Glück hat, droht ihr das französische Schicksal: arm, vom Staat in eine Minderheitenposition gedrückt, aber eifrig in der Verkündigung und klar in der Glaubenswahrheit.

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