Der Autor Wolf Haas schrieb vor etlichen Jahren den Liebesroman „Das Wetter vor 15 Jahren“. Inzwischen könnte auch eine interessante historische Abhandlung so ähnlich heißen. Im öffentlich-rechtlichen Funk der Gegenwart existiert der traditionelle Wetterbericht eigentlich nicht mehr. Damit verschwindet auch das Wetter selbst, also der natürliche Wechsel zwischen kalt und warm, trocken und nass, windstill und stürmisch. Mittlerweile gilt als souverän, wer im Nachrichtenstudio über den Ausnahmezustand bestimmt. Der herrscht mittlerweile immer, egal, ob in Deutschland oder anderswo. Es kommt nur noch auf seine konkrete Erscheinungsform an.
Der Gardasee gehört für viele Deutsche zur erweiterten Heimat. Deshalb schreckten viele Zuschauer auf, als das ZDF am 19. Mai unter der Überschrift „Jeder zweite große See verliert Wasser“ auch das populäre Urlaubsziel in Norditalien aufzählte, und zwar mit dem dramatischen Detail: „In Italien wurde für den Gardasee kürzlich ein ungewöhnlich niedriger Wasserstand verzeichnet: Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum habe der sich halbiert, hieß es.“
Screenshot / ZDF.de
Dazu verlinkte der Sender einen anderen ZDF-Beitrag. Dort hieß es allerdings nur, der Wasserstrand hätte dort kürzlich 60 Zentimeter unter dem Durchschnitt „der vergangenen Jahrzehnte“ gelegen, ohne diese Jahrzehnte näher einzugrenzen. Die Wassertiefe des Gardasees beträgt im Schnitt 136 Meter, im Maximum 346 Meter.
Der Wasserstand bezeichnet nicht die Wassertiefe, sondern den Abstand eines Punkts an der Wasseroberfläche lotrecht zum Pegelnullpunkt. Und der markiert wiederum nicht den tiefsten Grund, sondern einen für jedes Gewässer festgelegten Wert, gewissermaßen den Eichpunkt, der meist sehr deutlich flacher liegt. Beim Gardasee lautet Pegelnull: 64,027 Meter über Normalnull. In den ersten drei Monaten dieses Jahres stand der Pegel im Gardasee unter dem Durchschnitt der letzten Jahre. Und im Vergleich zum Vorjahr betrug der zum Pegelnullpunkt tatsächlich nur die Hälfte.
Nur: Als das ZDF sendete – in der zweiten Mai-Hälfte – bewegte sich der Wasserstand erstens schon wieder stark nach oben. Am 20. Mai betrug er 77,2 Zentimeter, der langjährige Schnitt seit 1950 liegt bei 105 Zentimetern. Für ein TV-Medium hätte es nahegelegen, einen möglichst aktuellen Pegel zu melden. Das wäre auch problemlos möglich gewesen, passte nur eben nicht ins Narrativ.
Zweitens geht es, siehe oben, um Abweichungen von ein paar Dutzend Zentimetern, weniger als ein Prozent der Durchschnittstiefe. Und drittens führt schon die Überschrift des ZDF bezogen auf den Lago di Garda in die Irre. Denn er leidet nicht unter einem generellen Wasserverlust, wie die Überschrift suggeriert. Sondern sein Wasserstand schwankt einfach – wie bei jedem See. Die Kurve des langjährigen Durchschnitts schlägt trotz der zeitweiligen Höhen und Tiefen nur sanfte Wellen, was dafür spricht, dass sich die Veränderungen meist schon im Jahresverlauf wieder ausmitteln. In einer Zwischenüberschrift legt der Sender aus Mainz nahe: Es liegt am Klimawandel, wenn der Gardasee einen Wasserstand drei Handbreit unter dem Schnitt meldet.
Vermutlich kennt auch nicht jeder ZDF-Endkunde den Unterschied zwischen Wassertiefe und Wasserstand. Das jedenfalls legt ein Tweet des grünen EU-Abgeordneten Michael Bloss nahe, zuverlässiger Verbreiter von Klimapanik und verwandtem Meinungsgut. In seiner Mitteilung mixte der Politiker den Füllstand spanischer Stauseen mit dem halbierten Wasserstand in Norditalien zusammen, um dann beides mit dem Kalenderblattspruch „Wasser ist Leben“ zu kombinieren. Bei seinen Lesern entsteht der von ihm durchaus beabsichtigte Eindruck, am Gardasee würde sich gerade eine Katastrophe abspielen oder vielmehr schon vollenden. Jedenfalls dann, wenn in Deutschland nicht schnell genug Wärmepumpen für alle und ein Tempolimit durchgedrückt würden.
Als ich dem ZDF Fragen zu der Formulierung im Beitrag stellte, antwortete der Sender zwar nicht, entfernte aber das Satzstück über die Halbierung. Dabei verzichtete er auf einen Hinweis für sein Publikum.
Die Geschichte vom dramatisch schrumpfenden Lago di Garda verbreitete auch der Bayerische Rundfunk. Dort hieß es in einem Beitrag, das Wasser im See hätte den „niedrigsten Stand seit 70 Jahren“ erreicht. Satellitenmessungen würden das belegen.
Die ARD-Anstalt teilte nur nicht mit, wer die Messung unternommen hatte, wann, und vor allem: mit welchem Ergebnis. Auf der Seite gardasee.de finden sich reichlich historische Pegel. Danach verzeichnete der See Anfang 2002 einen tieferen Wasserstand als im angeblich so rekordtrockenen ersten Quartal 2023. Im Sommer 2007 ging die Kurve deutlich weiter nach unten als in den meisten anderen Jahren.
Denselben BR-Beitrag vermischte die So-tief-wie-seit-70-Jahren-nicht-Behauptung mit einem Beitrag über eine Ebbe in den Kanälen Venedigs. Irgendwie, so die Botschaft der ARD-Klimanarrativ-Konstrukteure, läge das auch an der desaströsen Dürre in Italien.
Bekanntlich speisen nicht Flüsse die Kanäle der Lagunenstadt. Dort bestimmt das Meer. Für eine sehr kurze Zeit sorgte ein seltenes Wetterphänomen – anhaltender Ostwind – in Kombination mit den normalen Gezeiten für einen außergewöhnlich niedrigen Wasserstand in der Adria und damit auch in der Stadt der Kanäle. Als dort für einen Moment der Schlamm am Rand der Wasserstraßen unbedeckt unter dem Himmel lag, handelte es sich also um eine Auswirkung des Wetters, nicht des Klimas. Das Beispiel hätte sich unter normalen Medienbedingungen gut geeignet, um im Fernsehen den Unterschied zu erklären.
Bei den Öffentlich-Rechtlichen herrscht offenbar die innere Verpflichtung, die These vom akuten Klimanotstand bei jeder Gelegenheit so drastisch wie möglich zu verpacken.
Auch in einem fast gleich gestrickten Beitrag der Tagesschau am 19. Mai ging es um die Binnengewässer, die unter dem Klimawandel leiden. Ihren Befund vermischte die ARD-Nachrichtenredaktion wiederum mit der Warnung vor „extremen Folgen für die Artenvielfalt“ und bebilderte das Ganze mit dem Foto eines trockengefallenen Sees.
Das zeigt allerdings den wegen Sanierungsarbeiten abgelassenen Ellertshäuser Stausee in Franken (bei der Tagesschau „Ellershäuser See“ genannt). Sein Wasserverlust ist ohne Zweifel menschengemacht. Genauso wie seine Wiederauffüllung. Etwas später ersetzt die Tagesschau das eine irreführende Bild ohne Erklärung durch das nächste, das den teilweise ausgetrockneten Uitkerkse Polder in Belgien zeigt.
Auch hier schlug nicht der Klimawandel zu. Als Beispielort für dramatisches Artensterben eignet sich die sumpfige Gegend genauso wenig. Im Gegenteil: Der Polder und seine Umgebung beherbergen ein Weidevogel-Reservat; Naturliebhabern wärmstens empfohlen.
Das in dem ARD-Beitrag angedrohte große klimabedingte Artensterben verdient auch einen genaueren Blick. Schon 2014 relativierte das IPCC in seinem Bericht Vorhersagen eines unmittelbar bevorstehenden Massentodes. „Es besteht sehr geringes Vertrauen darin“, hieß es damals, „dass die Modelle das Aussterberisiko derzeit akkurat vorhersagen.“ Wissenschaftler, die sich mit den Aussterbe-Wellen in der Erdgeschichte befassen, warnen davor, das Verschwinden von Arten ausschließlich mit klimatischen Veränderungen in eine kausale Verbindung zu bringen. „In den kommenden zwei Jahren wollen wir noch genauer untersuchen, inwiefern derzeitige Prognosen zum klimabedingten Artenverlust angepasst werden sollten, weil sie den erd- und klimageschichtlichen Kontext ausblenden“, heißt es beispielsweise in einer Veröffentlichung der Universität Bayreuth.
Bisher gibt es nur eine einzige Säugetierart, deren Verschwinden Biologen ursächlich mit klimatischen Veränderungen zusammenbringen: Die Bramble Cay melomys wurden ab 2019 nicht mehr gesichtet, Nagetiere, die als kleine isolierte Population auf einer durch den Meeresspiegel geschrumpften Insel in der Torres-Straße zwischen Australien und Papua-Neuguinea lebten. In fast allen Medienbeiträgen über ein bevorstehendes klimaverursachtes Massensterben von einem Drittel aller Arten (und gern mehr) steht die Drohung in der Überschrift, das relativierende „könnte“ und „möglicherweise“ weiter unten im Text, falls überhaupt. Umgekehrt dringen positive Nachrichten nur ab und zu in den Narrativbereich von ARD und ZDF ein.
Auch in diesen Fällen findet eine entsprechende Bearbeitung statt, erwartungsgemäß mit einem anderen Drall. Als das Australian Institute of Marine Science (AIMS) 2022 die größte Korallen-Bedeckung des Great Barrier Reef seit 36 Jahren meldete, berichtete zwar auch das ZDF – allerdings klein und mit einem übernommenen dpa-Text, in dem es am Schluss hieß: „Das riesige Riff, das sogar aus dem Weltraum zu sehen ist, ist wegen der Meereserwärmung zunehmend in Gefahr. Die Korallen stoßen bei schwierigen Bedingungen die für die Färbung sorgenden Algen ab, mit denen sie sonst zusammenleben. Gebleichte Korallen sind extrem gestresst, aber sie leben noch und können sich wieder erholen.“ Für eine „zunehmende“ Gefährdung des schon totgesagten (Greenpeace 2002: „Korallen: ein tropisches Farbenparadies stirbt“) und heute wieder gut erholten Great Barrier Reefs spricht bis jetzt nichts. Beim ZDF fehlte auch der Hinweis, dass etwa die Hälfte der Schäden auf eine korallenvertilgende Seesternart zurückging.
Die Klimakatastrophenberichterstattung, die keine natürlichen Schwankungen mehr kennt, fügt sich harmonisch in das vermittelte Gesamtweltbild ein, in dem Distanz zum Gegenstand als Methode von Vorgestern gilt. Wenn es um die Organisation geht, die wie keine andere die Doomsday-Panik pflegt, unterstützen die Gebührenfunkhäuser gern. Die Tagesschau etwa lässt zur Verteidigung der etwas unter Druck geratenen „Letzten Generation“ einen Experten mit der Selbstbezeichnung „Protestforscher“ auftreten, der praktischerweise zu den Grünen gehört, wovon die Zuseher ebenso wenig erfahren müssen wie von der Lage des angeblich ausgedörrten Sees oder dem Garda-Wasserstand im Mai.
Nicht nur bei den Öffentlich-Rechtlichen, aber vor allem dort gilt der Grundsatz: Prognosen gibt es nur noch in hochdramatischer Ausführung. Und ihre Rücknahme bestenfalls später im Kleingedruckten. Schließlich verfahren die meisten Wetterdienste nicht anders.
Dass April und Mai in Deutschland dann eher kühl und nass ausfielen, merken die Leute auch so. Gibt es später doch noch ein paar wärmere Sommertage, durchsuchen Tagesschau-Redakteure wieder die Symbolfoto-Datei nach ausgetrocknetem Uferschlamm, um dann Mojib Latif oder Luisa Neubauer anzurufen. Denn für heiß, kalt und alles dazwischen gibt es den etwas abgewandelten Satz von Ulrich Wickert: Jetzt bloß nicht das Wetter.