Dieser Artikel ist eine Ausnahme. Denn er wird mit einer Anekdote beginnen. Sie spielt im Jahr 2011. Ein Geschichtsstudent besucht damals ein Seminar der Politikwissenschaft. Der Titel ist nicht mehr überliefert. Von Bedeutung ist, dass es bei der ersten Sitzung darum geht, dass die Welt konfliktärmer wird, umso mehr Demokratien es gibt. Demokratien führten bekanntlich untereinander keinen Krieg. Die wirtschaftliche Vernetzung trage dazu bei, dass Kriege seltener würden, da zwei wirtschaftlich eng vernetzte Nationen zu große Verluste riskierten, wenn sie gegeneinander zu Felde zögen.
Das Beispiel, das der Dozent damals nennt, ist explizit Taiwan. Die Verquickung der Chipindustrie der Insel und die Wirtschaft des Festlandes würden so aufeinander angewiesen sei, dass man einen Krieg ausschließen könnte. Eine Invasion vonseiten Pekings sei unwahrscheinlich. Als Argument wird außerdem angeführt, dass vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem autarke Systeme wie Deutschland, Italien, Japan oder die Sowjetunion bestanden hätten, die demnach freier intervenieren konnten. Das habe sich mit dem Zusammenwachsen der Weltwirtschaft grundsätzlich geändert.
Was in der Sitzung dominiert, ohne hinterfragt zu werden, ist demnach das, was man in der Politikwissenschaft die „liberale“ Schule nennt (ohne tatsächlich liberal zu sein). Sie sieht im demokratischen Zusammenwachsen des Globus eine Form der Vollendung. In ihr schlummert immer noch der Fortschrittsgedanke des 18. und 19. Jahrhunderts. Dass es Gegenmodelle zu diesen Erklärversuchen gibt, kommt nicht vor. Von den Studenten gibt es zu dieser als Fakt getarnten Theorie keinen Einspruch.
Der angesprochene Geschichtsstudent, der Politik nur im Nebenfach studiert, sieht sich aber herausgefordert: Denn die dargebotene Erklärung stimmt nicht mit dem überein, was in der Geschichte vorgefallen ist. Denn das erste Zeitalter der Weltwirtschaft ist nicht das 20. Jahrhundert, sondern das 16. Jahrhundert – hier wird zum ersten Mal mit dem Atlantik-, dem Pazifik- und dem Ostasienhandel der Handel über alle Weltmeere befördert. Das führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Konflikten.
Die Autarkie der totalitären Systeme ist eine Zwischensequenz. Ganz im Gegenteil habe sich ab der Renaissance bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhundert kontinuierlich ein Trend der Öffnung gezeigt. Tatsächlich war die Weltwirtschaft um 1900 deutlich engmaschiger verdrahtet als etwa um 1950. Unter ökonomischen Gesichtspunkten sei weder der Erste Weltkrieg noch die blutige Auflösung Jugoslawiens erklärbar. Denn gerade der Erste Weltkrieg hat auf Jahrzehnte die Wirtschaft aller beteiligten Länder zurückgeworfen.
Der Dozent antwortet schlicht: Er hätte auch einmal von dieser Theorie gehört. Der Einwurf wird abgewürgt. Es ist ein Moment, in dem beim Studenten etwas passiert. Er radikalisiert sich. Und verlässt das Seminar. Er kehrt danach nie wieder zurück.
Warum diese ungewöhnlich lange Einleitung? Sie legt dar, dass bereits vor über einem Jahrzehnt in der Außenpolitik eine Generation aufgewachsen ist, die vom Studium vor allem ein Modell kennt. Es handelt sich dabei mindestens um die zweite Generation, denn die vorherige weiß offenbar nicht, dass auch ihr Ansatz eine bloße akademische Lehre bzw. These ist – und nicht nur die andere „Theorie“. Die Verfestigung des akademischen Diskurses war also bereits damals gegeben. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht verhängnisvoll.
Denn eine nicht geringe Schuld am politischen Versagen haben die im akademischen Raum geschulten Politiker und ihre Berater, die ein spezifisches, ideologisches Denkmuster mit Intellektualität verwechseln. Sie haben bereits an der Universität nicht das Abwägen von Theorien gelernt, sondern das Auswendiglernen von Modellen. Sie sprechen von Komplexität, kennen aber nur eine Sicht. Eine Form der gebildeten Ignoranz, die selbst versierte Argumente als Populismus abtut, formiert sich aus dem Dünkel eines höheren Abschlusses. Selbst gegenüber anderen Akademikern.
Das Muster lässt sich seit Jahren in allen Bereichen verfolgen. Selbst renommierte Professoren müssen sich davor hüten, eine im Grunde über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bestehende, redliche akademische Meinung auszusprechen, wenn diese als nicht konformistisch genug gilt. Der Kampf gegen Carl Schmitt in den Feuilletons und Medien als reiner Nazi-Advokat – die Betonung liegt hier auf: rein – ist auch ein Kampf für die Verbannung althergebrachter akademischer Meinungen, hier etwa gegen Elemente der „realistischen“ Schule, die der „liberalen“ Schule entgegengesetzt ist.
Dass Schmitt „Kronjurist des Dritten Reiches“ war, ist Fakt. Es ist aber auch Fakt, dass seine Werke weit darüber hinaus rezipiert und angewandt wurden, etwa von der 1968er-Generation oder gar liberalen Denkern. Hobbes und Machiavelli werden als moralisch verachtungswürdig gebrandmarkt, obwohl ohne sie ein Großteil der politischen Geschichte nicht erklärbar ist. Man kann dahinter eine Strategie vermuten, die nicht in erster Linie moralisch, denn eher anti-argumentativ gedacht ist, um nicht nur missliebige Personen, sondern auch Ideen auszumerzen, die als Argumente gegen die eigene Ideologie vorgebracht werden könnten. Nicht die umgestürzten Denkmäler auf den Plätzen, sondern die Gedankenzerstörung in den Universitäten sind die wahre „Cancel Culture“, die das Abendland bedroht.
Im wohligen Schoß dieser ungetrübten akademischen Welt herrscht zwar die unfruchtbare Stagnation, aber unter Ihresgleichen gilt es als feinster Ausweis der eigenen Überlegenheit, ähnlich wie der Dekorhund in der linksgrünen Bourgeoise kinderloser, dafür umso abtreibungsreicherer Ehepaare.
Man sollte nicht den Fehler begehen, dieses Milieu als reine Karikatur misszuverstehen. Kommen wir auf die Eingangsgeschichte zurück. Denn mit höchster Wahrscheinlichkeit sitzen unzählige Absolventen, die in diesen Kursen brav zugehört, aber nur das hinterfragt haben, was sie hinterfragen sollten, heute als wissenschaftliche Mitarbeiter im Parlamentsbetrieb; als politische Berater in der Exekutive; als einflussreiche NGO-Mitglieder bei Stiftungen und Think Tanks.
Sie werden auch zweifelnden Entscheidungsträgern immer wieder eingeflüstert haben: Autarkie ist eine rückwärtsgewandte Idee der 1930er und 1940er; die Welt wird immer weiter vernetzt und China, Russland oder die USA aufgrund ihrer Verflechtungen determiniert; der freie Welthandel ist ein Dogma; geopolitische Eskalationen gehören der Vergangenheit an, zumindest in den für uns relevanten Zonen.
Deutschlands Außenpolitik ist von Prämissen wie diesen gekennzeichnet. Es sind Ideen, die ihren Höhenflug nach dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990ern hatten, aber heute noch als hochaktuell gelten. Dass Menschen nicht nur von rationalen und ökonomischen Gedanken bestimmt werden, sondern häufig auch von höchst irrationalen Vorstellungen oder gar Emotionen, hat in diesem Erklärungsmuster keinen Platz. Auch das im Übrigen ein Grund, warum „liberal“ als Bezeichnung für die Schule nicht passt: sie drängt den Menschen in eine begrenzte Zwangsjacke, die nur gewisse pawlow’sche Handlungen zulässt.
Neuerlich auf die aktuelle Situation angewendet: Mehrere Bundesregierungen haben ihre sichere („autarke“) Energieversorgung per Kernkraft aufgegeben und sich über Jahrzehnte auf eine „Brückentechnologie“ namens Erdgas eingelassen, weil sie der festen Überzeugung waren, dass dies der günstigste Weg sei. Schließlich würde Russland nichts gegen Europa unternehmen, wenn es stark in die europäische Wirtschaft verwickelt würde. Der Eigenwert einer Autarkie hat keinen Bestand unter den „rationalen“ Aspekten des billigen Imports. Es ist viel zu kurzsichtig, dafür nur grüne Ideologie verantwortlich zu machen: denn den ignoranten Dünkel tragen Armeen von bürokratischen Aktentaschensoldaten mit sich. Sie haben es so gelernt.
Das macht das Desaster, in dem Deutschland steckt, übrigens deutlich größer. Würden die Grünen morgen verschwinden und mit ihnen das, das man vereinfacht als „grüne Ideologie“ abkürzt, dann wäre das tröstlich. Es war aber maßgeblich die CDU, die diesen Weg eingeschlagen hat, davor die SPD. Und auch die FDP kann sich aus den Denkmustern nicht befreien, die sie erlernt hat. Die „Vergötterung“ der „Wissenschaft“, ob in Klimafragen, Corona oder Energiewende zeigt das jeden Tag.
Dass grundlegende Innovationen der Menschheitsgeschichte selten von Universitäten, dafür umso häufiger von einzelkämpferischen Individuen, häufig sogar im Widerstand zum akademischen Konsens ausging, wird heute häufig vergessen. Das gilt übrigens nicht nur für viele naturwissenschaftliche Entdecker, sondern auch zahlreiche Künstler.
Die gegenwärtige Krise Deutschlands ist deswegen noch nicht völlig erkannt worden. Sie ist in erster Linie hausgemacht, beschränkt sich aber nicht nur auf die Energie- und Wirtschaftspolitik. Ihr liegt eine geistige Stagnation zugrunde, die sich mit bunten Vielfaltsfedern schmückt, jedoch die Wiederholung des Gleichen darstellt. In diesem Sud blubbert der Gedanke, dass Meinungsfreiheit eine Gefahr sei. Dass der Innovator Elon Musk als Gefahr droht, erscheint folgerichtig. Die intellektuelle Verknöcherung der Elite ist dabei eine mindestens so große Gefahr wie eine irrende Elite. Häufig ist diese Gefahr deckungsgleich.
Freilich kann man dieses Problem nicht lösen, indem man wie der Autor dieser Zeilen das Seminar aus Protest verlässt. Aber eine nachfolgende Abwahl ist ja auch eine Wahl. Nur, wer Alternativen denken kann, der findet auch politische. Graue Alternativlosigkeit dagegen findet sich bei Francis Fukuyama wie Angela Merkel – und ihren alten wie neuen Erben.