Tichys Einblick
Kulturbetrieb in der Sackgasse

Im Elfenbeinturm: Der deutsche Kunstbetrieb in der Relevanzkrise

Kunst und Kultur werden in Deutschland deutlich stärker gefördert als in vielen anderen Ländern. Doch große Teile der Kunstszene entfremden sich vom Publikum, kreisen um sich selbst, und riskieren dadurch mittelfristig ihre privilegierte Position.

IMAGO/M. Popow

Was darf Kunst? Eine Frage, die sich immer wieder stellt, nicht erst seit der jüngsten Skandalinszenierung an der Oper Stuttgart. Eine Frage, über die es sich lohnt, nachzudenken. Nicht zuletzt ist die Kunstszene in Deutschland eine komfortabel alimentierte – wenn auch die ausführenden Künstler von diesem Geld nur einen Bruchteil sehen, häufig in prekären Verhältnissen leben und beschämend schlechten Arbeitsbedingungen und mangelnder Wertschätzung unterworfen sind.

Stupide Provokation
Skandalinszenierung in Stuttgart: Sind nackte Nonnen noch innovativ?
Dennoch: Mag kein Geld für die Künstler da sein, für die Kunst sind von Bund, Ländern und Kommunen stets auskömmliche Sümmchen vorgesehen – gut 2,2 Milliarden für das Jahr 2025 setzt etwa der Bund an.

Das ist keine Geldverschwendung, jedenfalls nicht per se. Rein wirtschaftlich betrachtet darf man nicht vergessen, was der Spielbetrieb mit sich bringt und nach sich zieht: Nicht nur das Theater bietet Arbeitsplätze, sondern auch die Unternehmen, die ihm zuliefern, die Gastronomie in der Umgebung, die Hotellerie, und so weiter. Und dann ist eine Gesellschaft eben auch weit mehr als das, was sie erwirtschaftet: Zahlreiche Handwerke finden sich am Theater, die sonst kaum noch betrieben werden; unsere Kultur zu pflegen, zu erhalten und weiterzuentwickeln, ja, auch in die Gesellschaft hinein zu wirken, das sind wichtige Aufgaben, die sich eine Kulturnation leisten sollte, auch, wenn es Steuergeld in Anspruch nimmt.

Deutschlands Kulturszene ist einzigartig

Das Resultat der Investitionen in den Kulturbetrieb kann sich, bleiben wir bei Zahlen und Fakten, sehen lassen: Kein Land dieser Erde verfügt über eine derart dichte Theater- und Orchesterlandschaft wie Deutschland. Mit großem Abstand finden hier etwa die meisten Opernaufführungen weltweit statt. Zu den rund 140 Theatern in öffentlicher Trägerschaft treten zahlreiche Orchester und Ensembles und eine vielfältige freie Theaterszene. Das sieht in vielen Ländern Europas anders aus: Da mag es in den Hauptstädten und in der einen oder anderen Großstadt ein Theater geben, viele Künstler aber können ihren Beruf nur nebenbei und in ihrer Freizeit ausüben; in Großbritannien etwa ist statt vergüteter Auftritte oft das Gegenteil üblich: „Pay to sing“ – der Sänger kauft sich in von Vereinen organisierte Opern- und Musicalproduktionen ein, je größer die Partie, desto mehr zahlt er. Solche Angebote gelten in Deutschland als unseriös: Hier soll bezahlt werden, wer Kunst ausübt. Gar nicht selbstverständlich!

Dennoch steckt die deutsche Kulturlandschaft in der Krise. Die Gründe dafür sind vielfältig, manche ragen jedoch auffällig aus dem Problemkomplex heraus. Dazu gehört die in Deutschland zuweilen tief verankerte Arroganz gegenüber dem Publikum. Ein Resultat dieser Haltung ist nicht zuletzt die Aufspaltung des Kulturbetriebs in E- und U-Musik, das heißt in sogenannte „ernste“ und sogenannte „Unterhaltungsmusik“. Das Missverständnis, erstere dürfe nicht unterhalten, weil sie ja ernst sei, führt regelmäßig zu Ausfälligkeiten wie in Stuttgart: Dahinter steht ein Denken, das Freude, Schönheit, Leichtigkeit und Genuss unter den Generalverdacht der Oberflächlichkeit stellt. Das mag etwas sein für fahrende Gaukler, aber nicht für unsere großen Künstlergenies. Der Künstler von heute ist nicht nur um einiges schlauer als der Zuschauer, den er belehren und erziehen muss, er ist auch intelligenter und fortschrittlicher als der Autor oder Komponist eines Werkes, und dadurch im Stande, es durch völlige Umgestaltung zu verbessern.

Mittsommernachtstraum im Globe
Ein woker Elfenreigen
Aber nicht genug: Auch der etablierte Hochkulturbetrieb selbst mit seinen Samtvorhängen und Logen ist dem Künstler von heute ein Dorn im Auge, schließlich ist das ganze Brimborium überholt. Dekonstruktion heißt das Zauberwort. Brecht wankt als untoter Geist über die Bühnen Deutschlands und vergällt dem Theaterpublikum so viel Kunstgenuss wie möglich. Adorno fristet sein Leben als Phantom der Oper: Gedichte sind seit Auschwitz verboten, wir müssen zerstören, zerbrechen, fragmentieren, auseinanderreißen. Poesie war vorgestern.
Das Publikum schwindet

Mit dieser arroganten Attitüde, verbunden mit einem ausgeprägten Anspruchsdenken, das von vielen Kunstschaffenden ausgeht, stellt sich die Szene selbst ein Bein: Man wirkt abgehoben und wenig zugänglich, schafft Barrieren durch Fachsimpelei und Gehabe. Womit wir beim zweiten Elefanten im Raum wären: Es gibt schlicht und einfach zu wenig Publikum. Angesichts der Bildungskrise und des Schwunds des Bildungsbürgertums, das Kunst selbst ausübt oder zumindest als selbstverständlichen Bestandteil des Lebens betrachtet, fehlen die Konsumenten für einen überdimensionierten Kunstbetrieb.

Ein Problem, das insbesondere das Musiktheater betrifft, da in Deutschland musikalischer Analphabetismus bei gleichzeitiger Dauerbeschallung mit Konservenmusik mittlerweile der Normalfall ist. Da kann Sprechtheater noch eher punkten, reden können wir schließlich alle. Wie gut, könnte man da sagen, dass auch die Kompetenz der Theatermacher spürbar nachgelassen hat, somit also auch Wissen und Expertise, die dem Publikum abverlangt werden – so wäre die Niedrigschwelligkeit der Hochkultur doch gewahrt. Ein Trugschluss. Denn nichts ist dem Pseudointellektuellen ferner als realistische Selbsteinschätzung. Man geriert sich als Könner und Kenner, tanzt im Elfenbeinturm Ringelrein um sich selbst, wähnt sich als Avantgarde und Speerspitze der Gesellschaftskritik – und vergisst dabei, dass für diesen Selbstbetrug andere zahlen müssen:

Es ist ein großes Geschenk, dass in Deutschland Kunst und Kultur derart wertgeschätzt werden, dass sie von den üblichen Gesetzen des Marktes von Angebot und Nachfrage ein Stück weit bis weitgehend ausgenommen sind. Es ist ein Geschenk, dass Künstlern damit ein Raum eröffnet wird, kritisch zu sein bis an die Grenze des Erträglichen, ein Stachel im Fleisch derer, die sie finanzieren; dass sie ohne Rücksicht darauf, ob das, was sie tun, „gefällt“, ihrer Arbeit nachgehen können. Dass sie provozieren können, ohne dadurch die Lebensgrundlage zu verlieren. Ein Privileg, das die Kunstszene als Naturgesetz hinnimmt, und darüber in großen Teilen vergessen zu haben scheint, dass sie dennoch oder gerade wegen der großzügigen Förderung, die ihr zuteil wird, auch etwas beizutragen hat zu diesem Vertrag mit der Gesellschaft.

Publikumsverhöhnung gilt oftmals als Ausweis künstlerischer Qualität

Provokation und Verhöhnung sind nicht dasselbe. Und während Kunst verstören darf, ist dies keinesfalls ihre eigentliche Daseinsberechtigung. Kunst darf auch erheben – sie darf sogar gefallen! Sie darf den Menschen einen Raum bieten, der ihren Alltag verschönert und bereichert. All dies ist eben nicht unter dem Niveau eines wahren Künstlers, als dürfe man es der zweitklassigen Unterhaltungskultur überlassen.

Zudem werden die gravierenden internen Probleme der Szene öffentlich kaum thematisiert. Um nur bei der Frage der Finanzierung zu bleiben: Die hanebüchene Spanne der Vergütung von Künstlern bei gleicher Leistung, je nachdem, ob diese in einer freien Produktion, an einem Theater in öffentlicher Trägerschaft oder zum Beispiel im Rahmen eines ÖRR-Festivals erbracht wird, ist einem Laien nicht vermittelbar, noch weniger wohl die Gehälter von Theaterintendanten. Wohlweislich spricht man über solche Missstände in der Öffentlichkeit also gar nicht erst – der Korpsgeist in der Kunst ist immens.

Ohne Umdenken wird die Kulturszene Rückhalt verlieren

Zeit ohne Geist
Der unaufhaltsame Niedergang der Künste
In einer Phase, in der Verteilungskämpfe zu- und Verständnis für Kunst abnimmt, sollte die Kulturszene begreifen, dass sie droht, ihre Daseinsberechtigung so weit zu verschleiern, dass man sie ihr am Ende absprechen wird. Mit der Absage an das Schöne beraubt sie sich der eigenen ideellen und philosophischen Grundlage, und engt sich selbst ein. Mit der Blasiertheit und Ignoranz gegenüber dem Publikum entfremdet sie sich den Menschen, die Kunst konsumieren, und dafür aufkommen.

Vielleicht wäre die Rückkehr zur banalen Notwendigkeit, Geld verdienen und sich selbst finanzieren zu müssen, also nicht die schlechteste Kur, um einerseits zu sich und andererseits zu einem der gesellschaftlichen Bedeutung angemessenen Format zu finden. Sicherlich ist es beklagenswert, wenn die Kunstszene schrumpft, wenn Produktionen mit geringem Budget auskommen und teurer bepreist werden müssen. Der Paradigmenwechsel wäre schmerzhaft und mit großem Verlust an kulturellem Erbe verbunden. Aber wenn das Bedürfnis nach Kunst nicht da ist, müssen die Künstler eben dieses Bedürfnis wieder wecken. Das tut man freilich nicht mit möglichst frivolen Obszönitäten auf der Bühne, und auch nicht, indem man den Fetisch zelebriert, alles neu, anders und nie dagewesen zu gestalten.

Viele Künstler beklagen die „Selbstausbeutung“, die ihr Beruf mit sich bringt. Das ist ein echtes Problem. Aber vielleicht hat sich der Kunstbetrieb in eine Sackgasse manövriert, in der Künstler eben vor allem noch ihrem – im schlimmsten Falle von Narzissmus getriebenem – Privatvergnügen nachgehen, ohne Blick dafür, was das Publikum wünscht. So manche mit Leidenschaft realisierte Laienproduktion tut mehr für die kulturelle Bildung der Zuschauer, als die großen Produktionen an ehrwürdigen Häusern. So mancher Dilettant vermag es, mehr zu berühren als jene Profis, die aus dem Fließbandbetrieb der Kunsthochschulen ins intransparente Getriebe der Theater- und Konzertwelt geworfen werden. Eine dramatische Schieflage, die man sicher auf verschiedene Weise beheben könnte. Beheben muss man sie. Denn Kultur ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.

Anzeige
Die mobile Version verlassen