Tichys Einblick
Reinheitswahn

Der neue Puritanismus: Antirassismus und Kampf gegen vermeintliche Diskriminierung

Wir nähern uns einer Situation, in der tendenziell alles, was zur Geschichte Europas gehört, als moralisch verwerflich verdammt wird, weil diese Geschichte durch Rassismus durchgehend vergiftet sei. Missliebige Meinungen sollen gar nicht mehr formulierbar sein.

Das Winston Churchill Denkmal in London wurde am 7. Juni 2020 von Demonstranten verunstaltet

imago images / i Images

Im Jahr 1614 wurde in London das Stück „Bartholomew Fair“ aufgeführt, eine Komödie des Dichters Ben Jonson, eines jüngeren Zeitgenossen von Shakespeare. Das Stück war vor allem eines: ein satirischer Angriff auf die kirchliche Richtung der Puritaner (die meist dazu neigten, Theateraufführungen an sich als heidnisch und unsittlich zu verdammen) und ihren Reinheitswahn. Eine der Hauptfiguren des Stücks ist der gottesfürchtige Zeal-of-the-Land Busy, eine Art Laienprediger, der hinter jeder Ecke die Spuren des „Papismus“, also der vorreformatorischen Kirche, und ihres „Götzendienstes“ sieht. Deshalb lehnt er natürlich auch einen Jahrmarkt, der nach einem katholischen Heiligen (Sankt Bartholomäus) benannt ist, vehement ab, von den Exzessen jedweder Art, zu denen der Besuch eines solchen Volksfestes führen kann, einmal ganz abgesehen. Aber wie so viele sittenstrenge Moralisten ist Busy ein echter Pharisäer. Er begleitet die Tochter einer befreundeten Witwe und deren Mann dann doch auf den Jahrmarkt, um sich dort selber den Bauch mit gebratenem Schweinefleisch vollzuschlagen mit der Begründung, dass es ausnahmsweise zulässig sei, solche heidnischen Plätze zu besuchen, wenn man es im richtigen Geiste und in der Begleitung eines frommen Mannes, wie er es sei, tue.

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Auch ansteckend: „Hass und Hetze“
Busy ist also zugleich ein Reinheitsfanatiker und ein absoluter Heuchler. Er predigt Wasser und trinkt Wein. Heute wäre Busy sicher langjähriges Mitglied bei den Grünen oder zumindest würde er zur regressiven Linken mit ihrem beständigen Kampf gegen Diskriminierungen jeder Art und mit ihrer Ablehnung des kulturellen Vermächtnisses der Geschichte Europas und des Westens gehören. Ein heutiger Zeal-of-the-Land Busy wäre absolut „woke“, jeder seiner Sätze wäre übersät mit Gendersternen und niemals würde er ein politisch inkorrektes Wort wie „Flüchtling“ statt „Flüchtende“ oder gar „Ausländerkriminalität“ benutzen. Wäre er Deutscher, würde er sich wohl stets am Glossar der „Neuen deutschen Medienmacher“ orientieren, um keine Wörter zu verwenden, die „unrein“ sind.

Wir leben in der Tat im Zeitalter eines neuen Puritanismus, der mit dem alten in seinem Fanatismus durchaus konkurrieren kann, das zeigen die Ereignisse dieser Tage, und auch die europäischen Reaktionen auf den Tod von George Floyd in den USA.

Europas pharisäerhafte Tugenddemonstration nach Polizeigewalt in den USA

Um nicht missverstanden zu werden, die Behandlung von George Floyd durch die lokale Polizei in Minneapolis war brutal und empörend und leider wohl nicht untypisch für das, was in den USA täglich geschieht. Die unterbezahlte und schlecht ausgebildete Polizei, die sich in einer extrem gewalttätigen Gesellschaft in der fast jeder bewaffnet ist, oft auch unmittelbar bedroht sieht, geht vielfach mit extremer Härte (erst schießen, dann Fragen stellen) vor, und Vorurteile gegen Afroamerikaner verschärfen dieses Haltung in vielen Fällen sicherlich noch, obwohl hier natürlich auch die deutlich höhere Kriminalitätsrate bei afroamerikanischen Männern ein Faktor sein mag. Aber das Verhalten des maßgeblichen Polizisten in Minneapolis war unentschuldbar und muss strafrechtlich geahndet werden, daran besteht kein Zweifel.

Die weltweite Reaktion auf diesen Vorfall gibt allerdings zu denken. In den USA ist es nicht nur vielfach zu gewalttätigen Ausschreitungen und Plünderungen gekommen, es werden auch absurde Forderungen wie die nach der Abschaffung der Polizei oder nach noch mehr qualifikationsunabhängigen Quoten für ethnische Minderheiten erhoben. Noch seltsamer aber sind die Anti-Rassismus-Demonstrationen in Europa, die von der Fiktion ausgehen, die Problemlage in Europa sei eine ganz ähnliche wie in den USA. Ja, Rassismus gibt es auch hier, wenn auch deutlich weniger als noch vor 30 Jahren. Und der hiesige Rassismus ist auch nicht immer nur ein heimisches Gewächs, sondern auch im Rahmen der Migrationswellen der letzten 40 Jahre importiert worden, man denke an den nicht selten anzutreffenden arabischen Hass auf Juden oder die zum Teil nicht sonderlich tolerante Haltung von Zuwanderern aus Osteuropa gegenüber Migranten aus Afrika.

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Vereint gegen Rechts - das Recht stört da nur, es bleibt auf der Demo-Strecke
Nur eine über 200-jährige Geschichte der Sklaverei im eigenen Land und eine daran anschließende 100-jährige Geschichte der Segregation, gesetzlichen Diskriminierung und permanenten Demütigung von Afrikanern und ihre Nachkommen haben wir in Europa selbst ungeachtet der führenden Beteiligung europäischer Kolonialmächte am Sklavenhandel eben so nicht aufzuarbeiten, schon deshalb, weil Menschen afrikanischer Herkunft in den meisten europäischen Ländern vor 1950 bestenfalls eine recht kleine Minderheit der Bevölkerung bildeten. Umso absurder ist es, wenn die Ko-Vorsitzende der SPD, die charmante Frau Esken, der Polizei auch in Deutschland institutionellen Rassismus vorwirft, oder wenn in Berlin ein Antidiskriminierungsgesetz vom Abgeordnetenhaus verabschiedet wird, das es Polizisten in Zukunft erheblich erschweren wird, gegen Straftäter mit nicht-europäischem Migrationshintergrund vorzugehen, wenn sie ihre Karriere und Pension nicht gefährden wollen. Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, als sich auf echte Schwerverbrecher wie „weiße“ Falschparker zu konzentrieren oder auf Personen, die im Netz „Hassparolen“ verbreiten, indem sie z. B. den hochmögenden Senat der Stadt kritisieren.
Denkmalstürze und die Sehnsucht nach Reinigung des kulturellen Gedächtnisses

Noch mehr spitzen sich die Konflikte zum Teil in einem Land wie Großbritannien zu, das freilich über lange Zeit führend am Sklavenhandel beteiligt war und wo heute nicht wenige Menschen leben, die faktisch Nachkommen früherer Sklaven sind. Man kann daher rein psychologisch vielleicht noch verstehen, dass sich die Wut von Demonstranten wie jüngst in Bristol gegen das Denkmal eines 1721 verstorbenen Kaufmannes (Edward Colston) richtet, der sein Vermögen mit dem Sklavenhandel verdient hatte. Wenn allerdings irgendein Mob auf eigene Faust ein Denkmal stürzen und zerstören kann, wie es in Bristol geschehen ist, warum sollte dann nicht derselbe Mob beim nächsten Mal Bücher verbrennen – natürlich die „richtigen“ Bücher – oder ganze Universitätsbibliotheken in Brand setzen, weil sie die Werke politisch nicht korrekter Autoren vorrätig halten. 

Ist die rote Linie zur Selbstjustiz einmal überschritten, gibt es kein Halten mehr. In diesem Kontext verwundert es dann auch nicht, dass ein begnadeter linker Opportunist wie der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan nun alle Londoner Straßennamen überprüfen lassen will, ob sie politisch korrekt sind. Das Gleiche soll für Denkmäler gelten. Dabei wird freilich übersehen, dass nach den Maßstäben der Gegenwart kaum eine Gestalt der Vergangenheit frei von Fehlern ist. Der eine Nationalheld oder heroische Freiheitskämpfer war vielleicht einfach nur jemand, der die Gleichberechtigung von Frauen ablehnte, dem anderen können Äußerungen vorgeworfen werden, die aus heutiger Sicht rassistisch sind, wie zum Beispiel Winston Churchill, der fest davon überzeugt gewesen sein dürfte, dass die angelsächsische „Rasse“ den „lesser breeds without the law“ (den „niederen Rassen ohne eigene Rechtsordnung“, ein Ausdruck von Rudyard Kipling) wie den Deutschen und Indern überlegen war. Das ist eine abschüssige Bahn. In einem nächsten Schritt können dann auch Figuren von ihrem Podest gestoßen werden, wie Mahatma Gandhi, die gestern noch als halbe Heilige galten. Auch Gandhi war am Ende ein typischer Viktorianer, der in den Begriffen seiner Zeit dachte, nur dass er eben nicht die Briten, sondern die Inder als die wirklich überlegene ethnische Gruppe ansah, namentlich natürlich auch im Vergleich zu Afrikanern.

Gemeinsam gegen den Mob
Eine Gewerkschaft für Meinungsfreiheit in England
Sein Beispiel zeigt aber: Geschichte ist nie rein. Selbst scheinbare Heilige und Tugendhelden haben ihre düsteren Seiten. Wir haben die Wahl: Entweder wir akzeptieren – natürlich nie ohne Kritik – eine Geschichte als Teil unserer Kultur, die immer auch eine Geschichte der Vorurteile, des Hochmuts und eben auch der Gewalt ist, oder wir verzichten ganz auf eine historische Dimension von Kultur, denn Reinheit und eine Verankerung gegenwärtiger politischer und kultureller Ordnungen in der Geschichte sind miteinander unvereinbar. 

Wer wirklich moralische Reinheit will, muss die Erinnerung an die Geschichte zerstören oder ausschließlich ins Negative wenden. Solche Versuche hat es immer wieder gegeben, man denke an die Französische Revolution (die freilich in den Republiken der klassischen Antike immer noch ein Vorbild sah), an die Russische Revolution oder an die Kulturrevolution in China. Wer hier wirklich eine tabula rasa schaffen will, der muss am Ende auch die Menschen ausschalten, die Träger des kulturellen Gedächtnisses sind, die traditionellen Bildungseliten, wie das in Maos China ja wirklich geschah, und noch gründlicher natürlich im Kambodscha Pol Pots.

Sicher, ein solcher Terror droht uns heute nicht. Davon sind wir weit entfernt, die Methoden der heutigen Tugendwächter sind sehr viel subtiler und Bildungseliten kann man auch einfach durch eine entsprechende Schulpolitik verschwinden lassen, was ja auch geschieht. Blut muss da nicht fließen. Sehr wohl zeichnet sich aber eine Situation ab, in der tendenziell alles, was zur eigenen Geschichte Europas gehört, dem Verdammungsurteil des moralisch Verwerflichen unterliegt, weil diese Geschichte durch Rassismus durchgehend vergiftet sei, und nur noch ethnische Minderheiten, die immigriert sind, ein Recht auf ihre eigene Geschichte haben. Geplante Reinigungsaktionen wie in London, zu denen es durchaus auch in Deutschland Parallelen gibt, gehen jedenfalls in diese Richtung.

Kein politischer Puritanismus ohne Sprachpolizei

Hinzu tritt die Tyrannis einer neuen Sprachpolizei. Das Glossar der „Neuen deutschen Medienmacher“ geht stark in diese Richtung. Missliebige Meinungen sollen gar nicht mehr formulierbar sein, indem man ihnen das passende Vokabular entzieht. So wie Zeal-of the-Land Busy schon den bloßen Namen eines katholischen Heiligen aus der Alltagssprache verbannen wollte, so versuchen es die Medienmacher mit allen Begriffen, mit deren Hilfe die Gegenseite ihre Argumente formulieren könnte. Es handelt sich um den Versuch, einen echten „newspeak“ im Sinne Orwells durchzusetzen. 

Städte ohne Polizei
Der Fall »USA vs. the Police«
Wie weit das gehen kann, zeigt abermals ein Vorfall aus Großbritannien, das in vielen Fragen schon weiter ist als wir. Die Schöpferin Harry Potters und der Welt von Hogwarts, die Autorin J. K. Rowling, wagte es in einem Tweet darauf hinzuweisen, dass es für „Menschen, die menstruieren“ („people who menstruate“ – die politisch korrekte Formulierung für Frauen im biologischen Sinne) früher auch mal einen anderen Ausdruck gegeben haben könnte, und dass der vielleicht Frauen (women) habe lauten können. Sie stellte damit in Abrede, dass Frau jede Person sei, die sich als solche bezeichnet, ganz unabhängig von den biologischen Eigenschaften. Das löste einen enormen Entrüstungsturm aus; die Romanautorin habe damit einmal mehr bewiesen, dass sie transphob sei und „Transmenschen“ das Recht verweigere, als Frauen bezeichnet zu werden. In den meisten Medien, selbst eher bürgerlichen, firmiert Rowling jetzt weltweit, auch in Deutschland als böse transphobe Schriftstellerin, womit wohl auch ein Exempel statuiert werden soll. Wer immer es zu behaupten wagt, dass der Mensch ein eigentlich zweigeschlechtliches Wesen sei, soll sich darüber klar werden, dass er damit die Regeln zivilisierter Konversation verletzt und zum Abschuss freigegeben ist, so dass man auch ungestraft seine oder ihre Karriere zerstören kann, was freilich im Fall von Rowling nicht mehr gelingen dürfte. Da wurde dann der richtige Zeitpunkt zur Epuration und Umerziehung leider verpasst.

Das Ausmaß an Intoleranz und Fanatismus, das in solchen Debatten zutage tritt, ist wahrhaft erschreckend und es geht von eben jenen Aktivist*innen aus, die angeblich für Toleranz, gegen Diskriminierung und gegen Rassismus kämpfen, In ihrem Pharisäertum können sie sich durchaus mit Ben Jonsons Puritanern messen. 

Ein Trost bleibt uns aber. Als im englischen Bürgerkrieg die Puritaner 1648 endgültig den Sieg über den König errangen, fiel ihnen zwar die Macht zu, aber endlose innere Fehden schwächten die Sieger. Die erhoffte religiös reine „Republik der Heiligen“ erwies sich als Chimäre und unerreichbar. Schließlich kam es nach der Wiederherstellung der Monarchie 1660 zu einer Gegenbewegung. Die „restoration rakes“ (die Wüstlinge der Restaurationszeit) betraten die Bühne, die durch ihre bewusste Verletzung aller Regeln den Engländern den Puritanismus für immer auszutreiben versuchten. Regelmäßige Bordellbesuche und öffentlich zelebrierte sexuelle Exzesse, wüste Trinkgelage und wilde Duelle, bei denen auch schon mal der Ehemann einer Mätresse mit einem geschickten Stoß des Degens erledigt wurde, waren jetzt ein Beweis der richtigen, royalistischen Gesinnung und der aufrichtigen Ablehnung des religiösen Fanatismus, eine Haltung, die bei großen Teilen der Bevölkerung, die die Herrschaft der humorlosen Sittenwächter und Spaßverderber satt hatte, zunächst durchaus populär war. 

In den USA ist schon eine Art „restoration rake“ an die Macht gelangt, Trump, ein Wüstling zumindest der provozierenden und vulgären Rhetorik und in früheren Lebensphasen wohl nicht nur der Rhetorik, auch wenn er es in den letzten Monaten etwas übertrieben haben dürfte, so dass seine Wiederwahl zweifelhaft geworden ist.

Sollen wir uns auch für Europa einen Trump wünschen? Sicherlich nicht, allenfalls über die mildere humanistisch gebildete Variante, wie man sie in England in Gestalt von Boris Johnson vor sich hat, könnte man wohl nachdenken. Nur der Gedanke daran, dass in den nächsten zwanzig Jahren die Tugendwächter und Fanatiker der politischen Korrektheit, die unsere Geschichte und Kultur meist abgrundtief hassen, nun endgültig das Regiment übernehmen und dazu noch die EU-Kommission und die EZB in perfekter Weise den finalen wirtschaftlichen Niedergang eines ganzen Kontinents organisieren werden, ist auch nicht gerade tröstlich. Da könnte man schon einmal an Emigration denken, zumindest an die innere, oder sich auf die eigenen Güter zurückziehen, wenn man denn welche hätte.

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