Tichys Einblick
Politischer Wortschatz (alt)

„Das Deutsche Volk“

Um das „Deutsche Volk“ des Grundgesetzes ist es politisch still geworden, der Ausdruck wird als „veraltet“, ja „nazi“ bewertet. Wer ihn häufiger verwendet, gilt für den Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“.

IMAGO / mix1

Das „Deutsche Volk“ steht sprachlich an prominenter Stelle der deutschen Verfassung, nämlich als Subjekt im ersten Satz der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Das war 1990, bei der Wiedervereinigung, aber auch schon 1949, bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Heute ist es um das Deutsche Volk politisch still geworden, der Ausdruck wird als „veraltet“, ja „nazi“ bewertet. Wer ihn häufiger verwendet, gilt für den Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“.

Als Rechtsbegriff bezeichnet das Deutsche Volk – die Großschreibung des Adjektivs macht die Wortverbindung zu einer Art Eigennamen – den Verfassungsgeber der Bundesrepublik Deutschland und die Gesamtheit ihrer Staatsbürger, das „Staatsvolk“. Dieser politische Volksbegriff steht in der modernen demokratischen Verfassungstradition, die 1787 mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beginnt, deren erster Satz lautet: „We the People of the United States, … do ordain and establish this Constitution for the United States of America“ (Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, … setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika).

„Dem Deutschen Volke“

In Deutschland tritt das Volk als Verfassungsgeber erst 1919 auf, in der Weimarer Republik: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen … hat sich diese Verfassung gegeben.“ Als Staatsvolk wurde es aber schon im 19. Jahrhundert anerkannt: In der Verfassung der Paulskirche von 1849 (Abschnitt VII: „Die Grundrechte des deutschen Volkes“) sowie in der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871, die in der Präambel als Staatsziel den äußeren Schutz Deutschlands nennt und die „Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“.

Am Reichstagsgebäude in Berlin wurde 1916, mitten im 1. Weltkrieg, in großen Bronzelettern die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ angebracht. Diese Widmung war schon bei der Einweihung, 1894, vorgesehen, scheiterte aber damals am Einspruch Kaiser Wilhelm II., der sie nun aus Sorge um seine Popularität genehmigte.

„Dem Deutschen Volke“ – das klingt heute nach vorgestern, und „das Deutsche Volk“ nach gestern. Was stört hier den herrschenden politischen Sprachgebrauch? Die Wortverbindung oder die einzelnen Wörter?

DEUTSCH

Der Worttyp „deutsch“ ist üblich als Sprachname und in der Bedeutung „in Deutschland“ (die deutsche Industrie, die deutschen Universitäten usw.). Als Volksname wird er im öffentlichen Sprachgebrauch eher gemieden: Man spricht heute lieber von den „Menschen in Deutschland“, „Menschen in unserem Land“ oder „länger hier Lebenden“ statt von „Deutschen“. In Bezug auf die Vergangenheit werden die Deutschen noch so genannt: „Die Deutschen im Mittelalter“, „Die Großen Deutschen“ (Buchtitel), ebenso im internationalen Kontext wie in der aktuellen Schlagzeile: „[Islamistischer] Terror: Deutscher in Paris getötet“ (Münchner Merkur vom 4. Dezember 2023).

National werden Deutsche in den Medien vor allem dann „Deutsche“ genannt, wenn sie an irgendetwas „schuld“ sind: So sah der frühere Kanzlerkandidat Armin Laschet bei den jüngsten anti-israelischen Demonstrationen in deutschen Städten „insbesondere junge Deutsche“ am Werk – tatsächlich waren es junge Leute mit palästinensisch-arabischem Migrationshintergrund und deutschem (Zweit)Pass. Bei auffälligen Straftaten wird in den Medien die Nationalität des Täters meist nicht angegeben („Mann mit Messer …“) – außer es handelt sich um einen Deutschen.

Kurzum: In positiver oder gar herausgehobener Weise, wie als Verfassungsgeber oder Souverän, kommen die Deutschen bzw. das deutsche Volk im herrschenden politischen und Mediendiskurs kaum mehr vor. Das zeigt sich auch wortstatistisch: In der deutschsprachigen Presse ging die Häufigkeit (pro 1 Million Textwörter) von „Deutsche(r)“ zwischen 1952 und 2022 um drei Viertel zurück.

VOLK

Unter „Volk“ im unpolitischen Sinn versteht man eine durch gemeinsame Kultur und Geschichte verbundene Menschengruppe, speziell deren breite Masse (das einfache Volk). Das Wort geht zurück auf althochdeutsch folc(h) „Kriegerschar“, „Menschenmenge“ – letztere Bedeutung ist noch heute in Wendungen wie „sich unter das Volk mischen“ erhalten. Bis Ende des 18. Jahrhunderts meinte „Volk“ – so das seinerzeit maßgebliche Wörterbuch (1793–1801) von Johann Christoph Adelung – in erster Linie „das gemeine Volk, die untersten Classen im Staat“ und hatte einen „verächtlichen“ Unterton. Adelung empfahl deshalb, den durch die Französische Revolution eingeführten politischen Hochwertbegriff „La nation française“ nicht durch „Das französische Volk“ zu übersetzen, sondern „Die französische Nation“.

Durch die Ideen der Französischen Revolution kam es aber in Deutschland zu einer politischen Um- und Aufwertung des Volksbegriffes, der sich literarisch zum Beispiel in Schillers Wilhelm Tell (1804) zeigt: „Wir sind ein Volk und einig wollen wir handeln“ (II, 2). Diese Politisierung setzte sich fort im Krieg gegen das napoleonische Frankreich (1813–1815) – „das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ dichtete damals der junge Theodor Körner – und mündete dann in der Verfassungs- und Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Wort „Volk“ unter dem Einfluss der damals verbreiteten Rassentheorie und des Darwinismus auch biologisch unterlegt. Im nationalsozialistischen Deutschland (1933–1945) kam es dann zu einer direkten Verbindung von Politik und Rassenlehre, die Begriffe wie „deutschblütig“ und „deutsches Blut“ verwendete. Der Volksbegriff wurde damit auch nach 1945 belastet, und zwar dauerhaft. Die Häufigkeit von „Volk“ in der deutschsprachigen Presse geht seit 1952 enorm zurück: Bis 2022 ist der Gebrauch des Wortes um 90 Prozent gesunken.

Politsprachlicher Archaismus

Als „Archaismus“ bezeichnet man lexikographisch einen sprachlichen Ausdruck, den die meisten Sprecher nicht mehr benutzen, aber viele noch kennen. Der Rechtschreib-DUDEN markiert solche Wörter als „veraltet“ oder „veraltend“, zum Beispiel Frauenzimmer, Gelichter (Gesindel), auf Freiers Füßen.

Ist der Ausdruck „das deutsche Volk“ in der Gegenwartssprache ein Archaismus? Im politischen Sprachgebrauch (Regierungserklärungen, Parteiprogramme, Fernsehnachrichten u. Ä.) zweifellos; denn er wird hier kaum noch verwendet, würde aber durchaus verstanden. Ähnlich ergeht es sprachlich auch anderen „Völkern“: Aus dem „tapferen Volk der Ukraine“ (the brave people of the Ukraine), das 2022 vom EU-Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit erhielt, machten ZDF-heute und Wikipedia „die ukrainische Bevölkerung“.

Als Ersatzwort für „Volk“ wird in politisch korrekter Sprache stellenweise „Bevölkerung“ verwendet, am häufigsten aber „die Menschen“. Nun sind wir alle Menschen, man muss deshalb den Ausdruck oft geographisch präzisieren: die Menschen in Deutschland (= Deutsche), die Menschen in der Ukraine (= Ukrainer) usw. Solche Formulierungen sind nicht nur umständlich, sie stiften auch keine Identität: „Menschen in Deutschland“ bilden eine Bevölkerung, aber – im Unterschied zu „Deutschen“ oder dem „Volk“ – keine Gemeinschaft.

Die viel beklagte „Spaltung“ der deutschen Gesellschaft ist eine Folge fehlender politischer Gemeinschaft. Aber woher soll in einem Staat, der sich zum multikulturellen Menschenland entwickeln will, dieser Gemeinschaftsgeist kommen? Ohne „das deutsche Volk“ bzw. „die Deutschen“ wird es ein WIR jedenfalls nicht geben und die Spaltung sich vertiefen.

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