Tichys Einblick

Corona und das Ende der Welt ohne Grenzen

Die Corona-Epidemie bringt die globale Linke in Erklärungsnot. Grenzen, so wird jetzt offenbar, haben durchaus einen Sinn. Wer das leugnet, um sich seine Vision von der grenzenlosen Welt zu bewahren, ist entweder zynisch oder durch seinen ideologischen Fanatismus verblendet.

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Wenn man sieht, wie sehr sich Deutschland in den letzten 10 Tagen unter der Wirkung der aus China kommenden Seuche verändert hat, kann man nur erschrecken. Wir befinden uns faktisch jetzt schon im Ausnahmezustand, und wenn man auf andere Länder Europas blickt, nicht nur auf Italien, sondern auch auf Österreich und Spanien, dann müssen wir damit rechnen, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens bald noch sehr viel drastischer sein werden als bislang, wenn man einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermeiden will. Sicher hat unsere Regierung auf die Seuche zu spät und zu zögerlich reagiert. Das Gleiche gilt für die meisten unserer Nachbarländer aber auch. Der Ernst der Lage wurde zu spät erkannt und natürlich hatte man auch Angst vor den wirtschaftlichen Folgen einer Lähmung des öffentlichen Lebens.

Auch wenn es zu früh ist, die langfristigen Folgen der Epidemie zu beurteilen, die in den einzelnen Ländern auch einen unterschiedlichen Verlauf genommen hat, je nachdem welche Abwehrmaßnahmen ergriffen wurden. Eines ist doch schon jetzt klar: Grenzen haben in einer Welt, in der Pandemien eine reale Gefahr sind, durchaus ihren Sinn. Nicht nur, weil sie es erlauben, wenn man rechtzeitig genug reagiert (was in Europa freilich fast nirgendwo der Fall war), mit Quarantäne-Maßnahmen die Ausbreitung einer Seuche einzuschränken oder zumindest zu verlangsamen, um somit Zeit für Abwehrmaßnahmen zu gewinnen, sondern auch, weil sich nun zeigt, dass man sich bei medizinischer Ausrüstung und Medikamenten auf die Versorgung aus dem Ausland in einer Krise nicht einmal ansatzweise verlassen kann.

Das tödliche Dogma
In der Corona-Krise verspielen Regierung und Medien das Vertrauen der Bürger
Man muss also eine gewisse Autarkie anstreben, zumindest auf der Ebene der EU, in geringerem Maße wohl auch auf nationaler Ebene. Das widerspricht komplett der Idee eines grenzenlosen Welthandels, der im Idealfall durch keinerlei Zölle oder andere Hemmnisse gebremst wird. Von diesem Welthandel und der Tendenz zur wirtschaftlichen Globalisierung hat Deutschland ohne Zweifel bis jetzt überproportional stark profitiert. Das erklärt, warum man zögert, sich vom Ideal eines homogenen globalen Wirtschaftsraumes ohne Grenzen abzuwenden. Aber in der neuen Welt, die das Virus schaffen wird, werden wir keine Wahl haben.
Merkels Vision eines Staates ohne kontrollierbare Grenzen scheitert

Gleiches gilt für eine Politik der offenen Grenzen im politischen Sinne. Natürlich kann auch ein einzelner Tourist, der aus einem Seuchengebiet zurückkehrt, ausreichen, um eine Epidemie auszubreiten, aber eine ansteckende Krankheit unter Kontrolle zu bekommen, ist eben doch einfacher, wenn man die grenzüberschreitende Mobilität einschränkt und möglicherweise zusätzlich, so wie es die Chinesen gemacht haben, sogar die Bewegungsfreiheit innerhalb des eigenen Staatsgebietes. Allerdings, gerade hier in Deutschland hatten wir uns 2015 auf das Dogma festgelegt, dass Grenzen nun einmal nicht zu kontrollieren seien und solche Kontrollen auch in jedem Fall unsinnig und zutiefst unmoralisch sind. Die Kanzlerin, die uns dieses Dogma verkündet hat, hielt an diesem Prinzip auch noch vor wenigen Tagen fest. Jetzt, wohl zwei Wochen zu spät, gilt es freilich doch nicht mehr und plötzlich sollen die Grenzen zur Schweiz, zu Österreich und zu Frankreich engmaschig kontrolliert werden. 

Die Götter meinen es nicht gut mit der Bundeskanzlerin, sonst hätten sie sie nicht gezwungen, gegen Ende ihrer Amtszeit auf so drastische Weise die eigenen Worte zu widerrufen. Aber der Druck war wohl zu groß. 

Merkel hat in den letzten Jahren zumindest zeitweilig versucht, ihre Partei und das ganze Land rhetorisch auf die No-Border-Vision der politischen Linken einzuschwören, auch wenn ihr wirkliches Handeln dem nicht immer entsprach. Dass ihr Nachfolger diesem Kurs wird treu bleiben können, selbst wenn er Laschet heißt, erscheint nun eher unwahrscheinlich, denn zugleich mit der Ausbreitung der Corona-Seuche versucht in Thrakien der türkische „strongman“ Erdogan die Außengrenze der EU durch eine Armee von wirklichen und vermeintlichen Flüchtlingen stürmen zu lassen. Er will demonstrieren, dass die EU ihm alles bieten muss, was er verlangt, wenn sie nicht jedes Jahr eine unbegrenzte Zahl von Immigranten aufnehmen will. Sicherlich, evangelische Theologinnen treten, vermutlich inspiriert vom Heiligen Geist, auch und gerade in solchen Zeiten für das Einreißen aller Grenzen ein und rufen sogar zum „Sturm auf die Parlamente“ auf, um dieses hehre Ziel durchzusetzen, aber so richtig mehrheitsfähig dürfte ein solcher Kurs in der EU oder selbst in Deutschland nicht mehr sein. Die Vision einer einheitlichen Weltgesellschaft, die es jedem erlaubt, sich an jedem Ort der Welt jederzeit niederzulassen, gerät also heute auf doppelte Weise ins Wanken, durch Corona und durch den Zynismus eines Herrn Erdogan. 

Für Propheten einer grenzenlosen Weltgesellschaft ist der Hinweis auf die Folgen der Epidemie blasphemisch

Wie reagiert die politische Linke, soweit sie nicht schon in der Vergangenheit wie Frau Wagenknecht etwa den Nationalstaat verteidigt hat, auf diesen plötzlichen Umschwung? Entweder mit Schweigen oder mit ohnmächtiger Wut. Ein Beispiel für Letzteres bietet ein Wissenschaftler  – der wohl auch politischer Aktivist ist  – aus Jena in der Zeit. Für Matthias Quent, so heißt er, ist das Schlimmste an Corona, viel schlimmer als die Toten oder die möglichen Lungenfibrosen bei den Überlebenden, dass davon die AfD mit ihren Katastrophenszenarien, ihren Verschwörungstheorien und ihrem Kulturpessimismus profitieren könnte. Nun mag die Abneigung von Herrn Quent gegen Björn Höcke und die Seinen nachvollziehbar sein, aber wenn er schreibt: „Der Rechtsradikalismus und die Corona-Pandemie haben mittelbar mehr miteinander zu tun, als man denkt: Beides sind Gefahren, die frühzeitig einzudämmen sind,“ wundert man sich doch ein wenig. Ist das nicht irgendwie doch eine Sprache, die wir aus den unseligen zwölf Jahren, die 1945 endeten, kennen? Werden da nicht Menschen, die Anhänger der AfD, mit Viren verglichen? Und ist es nicht so, dass jemand, der Menschen mit einer Krankheit gleichsetzt, diese Menschen eliminieren will? Diese Frage stellt sich zumindest. 

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Aber der Artikel von Herrn Quent bietet noch andere interessante Einsichten; so spricht er von einer „humanistischen Krise an der griechisch-türkischen Grenze“, als ob in Thrakien ein Streit zwischen Altphilologen ausgetragen würde. Er meint natürlich „humanitär“, scheint aber den Unterschied zwischen den Begriffen nicht zu kennen. Nun gut, das ist vielleicht im Fach Soziologie an der Universität Jena auch nicht ganz so wichtig, aber Herr Quent ist auch der Ansicht, dass die Ausbreitung der Corona-Seuche nichts mit der Globalisierung zu tun habe, denn schließlich sei es ja schon der Pest im 14. Jahrhundert gelungen, von Asien ausgehend ganz Europa zu erfassen, ohne dass es damals eine Globalisierung gegeben habe. Freilich übersieht er dabei nicht nur, dass die Ausbreitung der Pest schon damals durch intensivere Handelsverbindungen zwischen Europa und Asien begünstigt wurde, sondern auch, dass der weitgehende Sieg über die Pest in Europa im 18. Jahrhundert eng mit Quarantänemaßnahmen zusammenhing. So gab es an der Militärgrenze zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich zahlreiche Quarantänestationen und der letzte große Pestausbruch in Westeuropa, in Marseille 1720-22, konnte auch deshalb eingedämmt werden, weil man die Stadt rigoros von ihrem Hinterland abriegelte.

Grenzkontrollen sowohl an den Außengrenzen eines Staates wie auch innerhalb eines Territoriums sind also durchaus hilfreich, wenn es gilt, eine Seuche unter Kontrolle zu bringen, auch heute noch, das hat ja auch der Kampf gegen das Virus in China gezeigt. Wer das leugnet, um sich seine Vision von der grenzenlosen Welt zu bewahren, ist entweder ein kompletter Zyniker oder durch seinen ideologischen Fanatismus verblendet. Sicherlich, will man eine Pandemie bekämpfen, ist auch weltweite Zusammenarbeit hilfreich und notwendig und die Bereitschaft, Menschen in Not, die keinen Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung haben, man denke an das vom Bürgerkrieg zerstörte Syrien, großzügig vor Ort zu helfen. Das ist sowohl ein Gebot der Menschlichkeit wie der Klugheit, gerade in der jetzigen Lage.

Aber anderen helfen kann nur der, der sich seine Stärke bewahrt, so wie ein Arzt, der selber krank wird, ja auch seine Arbeit nicht mehr verrichten kann. Ein funktionsfähiges Staatswesen muss über die Fähigkeit verfügen, in Notfällen seine Grenzen zu schließen oder doch zumindest grenzüberschreitende Mobilität zu kontrollieren und einzuschränken; wenn das geht, gemeinsam mit verbündeten Nachbarn (etwa im Schengen-Raum), notfalls aber auch im Alleingang. Das eben zeigt die Corona-Seuche. Das hätte man sicher schon früher erkennen können, aber man wollte die Realität nicht anerkennen, auch weil man die eigene Stärke überschätzte und sich für unverwundbar hielt. Jetzt wird man diese Lektion lernen müssen, denn wir sehen, wie erschreckend fragil unser Wohlstand und unser Gesundheitssystem sind. Hoffen wir, dass der Preis für diesen Lernprozess nicht zu hoch ist.


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