Der neue Deutsche Bundestag zählt 736 Abgeordnete, 479 Männer und 257 Frauen. Ihre selbstgeschriebenen Kurzbiographien nebst Portraitfoto (Brustbild) findet man alphabetisch aufgelistet im „Kürschner“ (genauer: Kürschners Volkshandbuch, Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, Januar 2022). Dieses Standardwerk erscheint jeweils zu Beginn einer Wahlperiode und wird dann etwa halbjährlich aktualisiert.
Bei den Portraitfotos im Kürschner fällt sofort auf, dass das Outfit der weiblichen Abgeordneten viel variabler ist als das der männlichen. Die Männer trugen jahrzehntelang eine Art Uniform: weißes Hemd, (Anzug-)Jacke und Krawatte. Das änderte sich 1983, zu Beginn der 10. Wahlperiode des Bundestags – allerdings noch nicht bei den Parteien: Von den damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP trug jeweils nur ein einziger Abgeordneter keine Krawatte, bei der SPD waren es immerhin schon neun (5 Prozent), darunter ein 39-jähriger Rechtsanwalt aus Hannover, Gerhard Schröder, der den oberen Hemdknopf offen ließ.
Um die Jahrtausendwende lockerte sich der Krawattenzwang: Die Gründergeneration der New Economy machte ein krawattenloses, legeres Outfit zu ihrem Markenzeichen. Aus dem gesellschaftlichen Muss zur Krawatte wurde allmählich ein Kann. Dieser Entwicklung folgte auch die Politik, wo heute im internationalen Bereich Krawatte zwar weiter Pflicht ist, aber ansonsten bei immer mehr Anlässen abgelegt wird, weil sie nicht mehr zum Bild einer „dynamischen“ und „authentischen“ Persönlichkeit passend erscheint. Eine Reihe von Bundestagsabgeordneten, die sich im Kürschner 2017 noch mit Krawatte präsentierten, erscheinen deshalb im Kürschner 2021 krawattenlos – zum Beispiel der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn, der sich nun „oben ohne“ abbilden lässt.
Trotzdem ist die Krawatte im Bundestag 2021 noch kein Auslaufmodell. In zwei Fraktionen, CDU/CSU und AfD, trägt sie noch die Mehrheit (rund 60 Prozent) der männlichen Abgeordneten. Bei SPD und FDP bilden die Krawattenträger zwar eine Minderheit, aber eine beachtliche (über 30 Prozent); bei der Die Linke sind sie nur noch eine kleine Minderheit (17 Prozent, einschließlich des Fraktionsvorsitzenden) und bei den Grünen eine verschwindende (4 Prozent). Zu Details vgl. die Statistik am Ende des Beitrags.
„Mit oder ohne Krawatte?“ – das ist heute für die meisten Männer keine Grundsatzfrage, sondern eine Frage des Ermessens: Es hängt von den Umständen ab, wobei sich in den letzten Jahrzehnten die Formalitätsstufe für die Krawatte im Sinne eines kulturellen Upgrading nach oben verschoben hat. Je formeller die Situation, desto eher wird Krawatte angezogen. Diese Regel befolgen auch die Bundestagsabgeordneten (m): Der Abgeordnete Olaf Scholz (SPD), der im Kürschner locker mit offenem Hemdkragen erscheint, bindet sich als Bundeskanzler für amtliche Anlässe selbstverständlich eine Krawatte um.